Das Problem mit den Kategorien

Die Debatte um das Wesen des Geschlechts. Kaum ein Diskurs wird so erbittert geführt und nur selten treffen solch verhärtete Fronten aufeinander. Zumindest ergibt sich dieses Bild, wenn ich in meine persönliche Online-Filterblase schaue.

Anstoß für eine weitere Episode dieses nicht enden wollenden Austauschs von Strohmann-Argumenten war die letzte Folge der Netflix-Show Bill Nye Saves the World des US-amerikanischen Aushängeschilds der Populärwissenschaft Bill Nye, auch bekannt als Bill Nye the Science Guy, ehemaliger Moderator der gleichnamigen Wissenschaftssendung für Kinder.

Besonders viel Kritik, Spott und Hohn erhält derzeit dieses Segment der Sendung:

Die Botschaft ist einfach und verfolgt die besten Absichten: Das Geschlecht und Geschlechtsidentität lassen sich nicht in ein simples, binäres System zwängen. Es gibt mehr Kombinationen der Geschlechtschromosomen als XX und XY, mehr als nur männlich und weiblich. Geschlechtsidentitäten stimmen nicht immer mit dem biologischen Geschlecht überein und können sich im Laufe des Lebens verändern.

Vollkommen richtig. Das alles kommt vor und nicht jeder Mensch kann sich in dieses System mit nur zwei Möglichkeiten einordnen. Wenn wir jedoch einen Blick auf die Häufigkeit dieser weiteren Möglichkeiten schauen, dann fällt auf, dass mehr als 99% aller Menschen problemlos in entweder die XX- oder die XY-Kategorie fallen:

Karyotypen3
Abb. 1: Anteil verschiedener Karyotypen bei Neugeborenen. Man beachte auch den Bruch der Y-Achse. Ohne diesen wäre es nicht möglich gewesen die Anteile des X- und XXYY-Karyotyps grafisch abzubilden. (Darstellung basiert auf den Daten der U.S. National Library of Medicine)

Aus den Daten über die Häufigkeit verschiedener Chromosomenanomalien der U.S. National Library of Medicine habe ich obige Abbildung erstellt. Es ist eindeutig, dass Abweichungen vom XX/XY-Karyotyp extrem selten sind und noch nicht einmal einen Anteil von 0,5% bei allen Neugeborenen ausmachen.

Bedeutet das nun, dass die von einer solchen Chromosomenabnormalität Betroffenen vernachlässigt oder gänzlich ignoriert werden sollten? Diese Frage beantworte ich mit einem vehementen „Nein!“ und dieser Sachverhalt soll hier auch gar nicht zur Debatte stehen.

Stattdessen möchte ich die Frage in den Raum werfen, welches Ziel die von Bill Nye bzw. seinem Produktionsteam gewählte Darstellung der Abweichungen vom XX/XY-Karyotyp verfolgt und welchen Mehrwert diese Form der Kategorisierung, und letztendlich „Gleichstellung“, verschiedener Karyotypen produzieren soll.

Kategorien, Einordnungen und Klassifizierungen sind kognitive Hilfswerkzeuge. Das menschliche Denken basiert auf Mustererkennung und wir erschaffen immer und immer wieder Kategorisierungen, um diesen erkannten Mustern einen Namen zu geben und um diese unmissverständlich und effizient kommunizieren zu können. Kategorisierungen sollen uns also kognitive Arbeit abnehmen, indem sie die Realität weiter schematisieren bzw. vereinfachen und sie sollen unsere Kommunikation erleichtern, indem wir uns gemeinsam darauf einigen, welchen Rahmen eine Kategorie umfasst, welche Sachverhalte in diese Kategorie fallen und welche sich außerhalb dieser Kategorie befinden. Daher reicht es z.B. eine etablierte Kategoriebezeichnung zu erwähnen, um auf sehr effiziente Art und Weise Informationen zu vermitteln, während ohne die Existenz einer solchen Kategorie deutlich mehr Zeit und Arbeit investiert werden müsste, um einer anderen Person zu erklären, was denn nun eigentlich gemeint ist.

Da Kategorien zu 100% menschliche Konstrukte darstellen, unterliegen sie einem ständigen Wandel. Klassifizierungen ändern sich, Kategorien werden enger oder weiter gefasst, Einordnungen werden unter anderen Gesichtspunkten vorgenommen, wenn sich die Informationslage wandelt.

Egal wie stark jedoch dieser Wandel ist, Kategorien sollten immer folgende Punkte erfüllen: Sie sollen die Realität korrekt abbilden, diese vereinfachen und diese vereinfachte Realität eindeutig kommunizieren. Wenn diese Merkmale von einer Kategorisierung nicht erfüllt werden, dann ist sie im besten Fall nutzlos und im schlimmsten Fall gefährlich, da sie falsche Schlussfolgerungen provoziert.

Daraus ergibt sich Folgendes: Kategorisierungen sind niemals wahr oder unwahr, da sie keine Fakten darstellen. Das bedeutet aber nicht, dass alle Kategorisierungen gleich sinnvoll und angemessen sind.

Schlagen wir jetzt wieder den Bogen zu unserem Ausgangspunkt und dem Segment aus der Sendung von Bill Nye. Welches Ziel verfolgt die dort gewählte Darstellung der Abweichungen vom XX/XY-Karyotyp? Klinefelter-Syndrom, Turner-Syndrom, Triple-X-Syndrom etc. sollen als eigenständige, gleichwertige Kategorien neben den XX- und XY-Karyotypen angesehen werden. Als ob es sich hierbei eben nicht um Anomalien und Störungen der normalen Geschlechtsentwicklung beim Menschen handelt, sondern dass stattdessen nahezu nach dem Zufallsprinzip während der Meiose die jeweilige Kombination der Geschlechtschromosomen entsteht. Das ultimative Vorhaben besteht darin, die Stigmatisierung der Betroffenen aufzuheben, den Blick weg vom Krankheitsbild zu lenken und somit den Fortschritt hin zu einer sozialeren und gerechteren Gesellschaft zu fördern. Ob dieses Ziel tatsächlich erreicht werden kann, lasse ich an dieser Stelle unkommentiert.

Doch welchen Mehrwert kann eine solche Vorgehensweise überhaupt bieten? Die Fakten lassen sich durch keine noch so ausgefuchste semantische Spielerei ändern. Es bleibt die Tatsache bestehen, dass Chromosomenanomalien weniger als 1% der Gesamtbevölkerung betreffen und die Betroffenen immer eine Abweichung von der Norm bleiben werden. Eine „Gleichstellung“ verschiedener Karyotypen oder die Erfindung neuer Kategorien für diese Abweichungen wird an diesen Zahlen auch in Zukunft nichts ändern. Lässt sich aber das Stigma, welches mit diesen Chromosomenanomalien verbunden ist, reduzieren oder sogar vollständig abschaffen? Möglicherweise.

Ist aber ein „möglicherweise“ ein ausreichender Grund dafür, die Funktion und den Sinn von Kategorisierungen auszuhebeln? Schauen wir uns noch einmal die von mir genannten Merkmale einer Kategorisierung an: Abbildung der Realität, Vereinfachung, Eindeutigkeit.

Eine Abbildung der Realität findet nur insofern statt, als das es tatsächlich verschiedene Karyotypen geben kann. Das Verhältnis in der Auftretenshäufigkeit dieser verschiedenen Karyotypen wird hingegen nicht korrekt abgebildet. Der vermittelte Eindruck legt nahe, dass z.B. XX und XXY gleich häufig auftreten können, was eine massive Verzerrung der realen Situation darstellt. Außerdem kann dadurch ein Klima erschaffen werden, bei dem diese Chromosomenanomalien weniger als Krankheitsbild wahrgenommen, sondern nur mehr als weitere, normale Ausprägung der Geschlechtschromosomen angesehen werden. Im schlimmsten Fall führt das zur Vernachlässigung der spezifischen Probleme, die mit einer solchen genetischen Störung einhergehen und Betroffenen wird nicht die Hilfe und Aufmerksamkeit entgegengebracht, die sie benötigen. Auch Forschungsbestrebungen zur Symptombekämpfung und letztendlich Heilung dieser Krankheitsbilder kann dadurch eingeschränkt werden, da hier zwei sich gegenseitig ausschließende Konzepte aufeinander prallen: Schwangerschaftsabbruch bei frühzeitig entdeckten genetischen Störungen, präimplantationsdiagnostische Methoden und (zukünftige) Eingriffe in das Erbgut mit dem Ziel der Heilung von Erbkrankheiten unterliegen immer dem Vorwurf der Euthanasie, wenn Chromosomenanomalien wie Klinefelter- und Turner-Syndrom ja eigentlich nur andersartige Ausprägungen des Geschlechts sind.

Des Weiteren findet keine Vereinfachung der Realität statt. Ganz im Gegenteil, die Erfindung neuer, gleichwertiger Geschlechtskategorien neben männlich und weiblich verkompliziert den Blick auf die Situation. Das allein wäre jedoch kein Grund diese neuen Kategorien abzulehnen, wenn diese Verkomplizierung gerechtfertigt und z.B. empirisch/wissenschaftlich gestützt ist. Das ist jedoch aus meiner Sicht nicht der Fall.

Wenn wir uns weiterhin anschauen, ob diese neuen Kategorisierungen eindeutig, klar und unmissverständlich sind, dann fallen wir in ein tiefes schwarzes Loch. Männlich und weiblich, XY und XX respektive, sind Funktionsbeschreibungen bzw. -zuweisungen im Rahmen der geschlechtlichen Fortpflanzung. Die Männchen einer Spezies sind die Spermienproduzenten, während die Weibchen einer Spezies die Eizellenproduzenten sind. Diese beiden Kategorien basieren also auf funktionellen Unterscheidungen zwischen zwei Phänotypen, die eine sich geschlechtlich fortpflanzende Spezies aufweisen kann. Im Zusammenhang mit diesen beiden unterschiedlichen Aufgaben finden sich zahlreiche genetische, morphologische und hormonelle Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern. So finden wir unterschiedliche Geschlechtschromosomen, unterschiedliche primäre, sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale, unterschiedliche Hormonkonzentrationen und die besagten unterschiedlichen Gameten, namentlich Spermien und Eizellen. Alle diese Unterscheidungen beruhen auf einer Kausalkette und einer Entwicklungskaskade, die mit Abschluss der Befruchtung eingeleitet wird. Ausschlaggebend hierfür ist das SRY-Gen, lokalisiert auf dem Y-Chromosom (Ausnahme: Translokation). Ist es vorhanden, wird im weiteren Verlauf der Embryonalentwicklung die männliche Entwicklungskaskade eingeleitet. Ist es nicht vorhanden, wird die weibliche Entwicklung gestartet. Die Unterscheidung der Individuen innerhalb einer Spezies in männlich und weiblich ist also gerechtfertigt und empirisch gestützt.

Wie verhält es sich mit eigenen Geschlechtskategorien für die Karyotypen XXY, XYY und X? Alle diese Chromosomenanomalien weisen unterschiedliche Symptome in unterschiedlicher Intensität auf: Kleinwüchsigkeit, Sterilität, kein Einsetzen der Pubertät aufgrund von zu geringen Hormonspiegeln, Schwellungen, Nierenprobleme, Herzfehler, Änderungen des Skelettbaus, mentale Retardierung, Fehlbildungen der Genitalien, verstärkter oder verringerter Haarwuchs, Verhaltensstörungen etc. Zusätzlich entwickelt sich bei den Betroffenen ebenfalls mindestens einer der beiden Gametentypen und in besonderen Fällen der Intersexualität kann sich außerdem nicht funktionsfähiges Gewebe des anderen Geschlechtsorgans herausbilden.

Inwiefern kann nun Eindeutigkeit zwischen diesen neuen, gewünschten Geschlechtskategorien und den „alten“ Geschlechtskategorien bestehen? Die Rahmenbedingungen der neuen und alten Kategorien stimmen nicht überein, sie umfassen nicht die gleichen Sachverhalte und Merkmale und sind auch nicht in sich konsistent, da die Chromosomenanomalien eine unterschiedlich starke Symptomatik hervorbringen können. Die Verwendung des Kategoriebegriffs „Geschlecht“ ist in diesem Zusammenhang eindeutig irreführend.

Ich möchte an dieser Stelle die bisher getätigten Überlegungen und Bedenken anhand einer Analogie verdeutlichen: Menschen haben zwei Typen von Gliedmaßen, Arme und Beine. Diese beiden Kategorien sollen die zugehörigen Körperteile auf morphologischer und funktioneller Ebene unterscheiden. Arme werden von 99% aller Menschen zum Heben, Malen, Schreiben etc. eingesetzt, während Beine in der Regel von der Mehrheit aller Menschen zur Fortbewegung eingesetzt werden.

Es kommt nun vor, dass durch Erkrankungen bzw. Entwicklungsstörungen manche Menschen die Arme zur Fortbewegung nutzen (müssen) oder mit ihren Beinen greifen, heben, malen und schreiben können (technische Hilfestellungen jetzt einmal außen vorgelassen). Die Anzahl dieser Personen bleibt jedoch überschaubar und letztendlich eine Anomalie, eine Abweichung von der Norm. Ausnahmen bestätigen die Regel und widerlegen sie nicht.

Jetzt könnte es, analog zur Geschlechterdebatte, auch in Bezug auf Arme und Beine einen Vorstoß geben, um zusätzliche Kategorien für diese Abweichungen einzurichten. Damit wird das „binäre System“ von Armen und Beinen aufgebrochen, für ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit gesorgt und die Stigmatisierung der Anomalie aufgehoben. Fortan reden wir von „Bein-Läufern“ und „Arm-Läufern“; manch einer entscheidet sich sogar dafür, sich als „Arm-Läufer“ zu identifizieren, obwohl dafür aus morphologischer Sicht gar keine Notwendigkeit besteht.

Sollte das eine liberale Gesellschaft ermöglichen? Natürlich.

Aber welchen Sinn hätte es eine neue Kategorie einzuführen, in der diese Menschen zusätzlich klassifiziert werden? Und welche Rechtfertigung gäbe es dafür, diese Abnormalität (und das meine ich nicht wertend, sondern als faktische Beschreibung, d.h. Abweichung von der Norm) mit den „Bein-Läufern“ zu vergleichen und so zu tun, als handele es sich hierbei einfach nur um eine andersartige Ausprägungsform des Bewegungsapparats oder eine persönliche Entscheidung, die theoretisch jeder treffen könnte und würde, wenn er nur nicht durch repressive Gesellschaftsnormen daran gehindert werden würde (vgl. Cis- und Heteronormativität)?

Wäre es falsch? Nein. Aber es wäre irreführend, weil damit ein falscher Eindruck der Realität vermittelt wird.

Die Kategorie der „Bein-Läufer“ würde eine so signifikant höhere Relevanz als die Kategorie der „Arm-Läufer“ besitzen, dass es absolut lächerlich erscheint ein System verkomplizieren zu wollen, nur um den Schein von sozialer Gerechtigkeit und gefühlter Repräsentation aufrecht zu erhalten. Die „Arm-Läufer“ würden außerdem weiterhin als Abweichung von der Norm betrachtet werden, egal wie viel semantischer Hokuspokus betrieben wird.

Noch deutlicher lässt sich dieser Vergleich auf der morphologischen Ebene vornehmen. Bleiben wir beim Arm-Bein-Beispiel: Zwei Gliedmaßen, die sich eindeutig morphologisch unterscheiden. Jetzt wird ein Mensch mit genetischer Abnormalität geboren, welche in einem oder mehreren Gliedmaßen resultiert, welche Merkmale von Arm und Bein aufweisen. Handelt es sich nun um eine neue Kategorie von Gliedmaßen? Sollten wir dafür eine eigene Kategorie erfinden, um dieses augenscheinliche Krankheitsbild ausreichend in der Gesellschaft zu repräsentieren? Warum reden wir nicht von einem Spektrum zwischen Arm und Bein?

Ohne mich hierbei jetzt allzuweit aus dem Fenster zu lehnen, kann ich mit guter Gewissheit annehmen, dass sich hinter diesem Vorschlag nur wenige Unterstützer versammeln lassen würden. Aber warum? Prinzipiell reden wir von einem vergleichbaren Mechanismus. Zwei eindeutig unterscheidbare Kategorien und ein riesiges Spektrum an möglichen Ausprägungen dazwischen. Dass diese möglichen Ausprägungen jedoch in der absoluten Mehrheit Entwicklungsstörungen darstellen, sollte ja eigentlich niemanden davon abhalten, neue, gleichwertige Kategorien neben Arm und Bein zu fordern. Oder?

In der Debatte um das Wesen des Geschlechts scheinen jedoch andere Regeln zu gelten.

Hetzen leicht gemacht [Dokto-RANT #3]

Zum Abschluss des Jahres habe ich mich noch einmal vor mein Mikrofon gesetzt und ein paar der Ereignisse der letzten Wochen Revue passieren lassen. Wenn ihr etwas Sitzfleisch mitbringt und ca. 50 Minuten lang meinen Worten lauschen wollt, dann wünsche ich jetzt schon einmal viel Spaß dabei! Unabhängig davon möchte ich aber allen Lesern meines Blogs einen guten Rutsch ins neue Jahr 2017 wünschen. Auf ein weiteres Jahr voller Scheinargumente, Fehlschlüsse und Unfug den es aufzuklären gilt!

Musik für Sexisten

Eigentlich möchte man meinen, dass es auch in Zeiten der gegenderten Wissenschaft, sexistischer Videospiele und Geschlechterdiskriminierung an der Ladentheke zumindest eine handvoll an Themen geben muss, welche nicht dem Vorwurf des Sexismus und der Frauenfeindlichkeit anheimfallen. Doch schließlich sprach einst Popkultur-Kritikerin Anita Sarkeesian wie der Prophet vom Berge zu uns: Everything is sexist, everything is racist. Und frei nach diesem Motto agiert auch die Schweizer Frauenzeitschrift annabelle und nimmt sich in einem Artikel den „Sexismus in der Musikbranche“ vor.

Zu Beginn stellt Autorin Miriam Suter folgende Fragen:

Wo sind eigentlich die Frauen auf den grossen Bühnen? Diese Frage beschäftigt mich schon lange. Und warum scheint es für Musikerinnen im Allgemeinen schwieriger zu sein, Erfolg zu haben?

Doch bevor wir zum Inhalt der „Analyse“ von Frau Suter kommen, möchte ich einen kurzen Abstecher in das Reich der anekdotischen Evidenz vornehmen: Als langjähriger Hobbymusiker und ehemaliges Mitglied mehrerer Musik- und Bandprojekte ist mir persönlich die „Musikbranche“ in vielen Teilaspekten durchaus vertraut. Bereits in den Anfangsjahren meiner musikalischen Tätigkeit ist mir aufgefallen, dass bei der Suche nach passenden Mitmusikern die Auswahl weiblicher Teilnehmer signifikant geringer war als die Anzahl männlicher Optionen. Vor allem für das typische Schema Unterhaltungsmusik, mit Schlagzeug, E-Gitarre, E-Bass und Gesang, fanden sich meistens nur für Letzteres Musikerinnen, während sich für die drei bis vier übrigen Instrumente oftmals ausschließlich die Herren der Schöpfung auftrieben ließen. In meiner jungen Naivität hörte meine Verwunderung darüber jedoch schnell wieder auf und mir genügte die selber hergeleitete Erklärung, dass sich dieses Ungleichgewicht durch unterschiedliche Interessen und Vorlieben zwischen Männern und Frauen erklären lässt.

Oh, wie ungebildet ich doch war! Hätte ich nur damals schon die Gelegenheit bekommen mich darüber belehren zu lassen, dass die primären Gründe für diese ungleiche Geschlechterverteilung natürlich nur eins sein können: Sexismus und Frauenfeindlichkeit.

In diesem Sinne belehrt daher auch Frau Suter einen nicht namentlich genannten Bekannten in ihrem Artikel über dieses „Sexismusproblem“:

It’s a Man’s World

„Was ist denn dein Problem, Frauen sind ja momentan in den Charts sehr gut vertreten“, meinte letztens ein Bekannter zu mir. Das mag stimmen. Aber diese Tatsache verstärkt eigentlich meine Frage: Warum sind sie dann beispielsweise an den Festivals nicht ebenso sichtbar? Fest steht: Die Musikwelt ist eine Männerdomäne. An den diesjährigen Musikfestivals in der Schweiz siehts jedenfalls grösstenteils mau aus mit dem Frauenanteil. Am Open-Air St. Gallen treten 42 Acts auf, darunter 14 Frauen – solo, als Teil einer Band oder als DJ. Am Zürich Openair steht zwar noch nicht das ganze Programm, der aktuelle Stand ist aber dennoch ernüchternd: Unter den 16 bestätigten Acts sind 2 Frauen. Nicht ganz so gravierend, aber ähnlich sieht es nach aktuellem Stand der bestätigten Acts am Gurtenfestival aus: Unter den 51 auftretenden Bands findet man elf Frauen.

Mein naives, jüngeres Ich möchte jetzt antworten: „Na ja, wenn im Durchschnitt weniger Frauen zu Schlagzeug, E-Gitarre und E-Bass greifen, dann muss doch allein dadurch schon ein quantitativer Unterschied entstehen, welcher sich natürlich auch in der Anzahl an Frauen auf Festivalbühnen niederschlägt“. Besonders dann, wenn die erwähnten Festivals mehrheitlich Bands einladen, die diesem Schema der Instrumentenverteilung folgen.

Das findet auch Philippe Cornu, der im nächsten Absatz zu Wort kommt:

Philippe Cornu bucht die Bands fürs Gurtenfestival und sagt: „Es gibt unbestritten weniger Musikerinnen als Musiker, die E-Gitarre, Schlagzeug oder Bass spielen. Gesang und Keyboards sowie Saxofon sind unter den Frauen eher verbreitet.“

Und er fügt hinzu:

„Wir achten im Bookingprozess nicht zwingend auf das Geschlecht, sondern darauf, welche Band, Musikerin oder Musiker gefällt, passt und auch auf Tour ist.“

Etwas schwammiger ist dann jedoch seine Erklärung dafür, warum weniger Frauen zu den genannten Instrumenten greifen:

„Warum dies so ist, hat geschichtliche Hintergründe in der gesellschaftlichen Entwicklung und der Stellung der Frau.“

Dass z.B. restriktive Geschlechterrollen in der Vergangenheit Frauen mit hoher Wahrscheinlichkeit davon abgehalten haben eine Musikerkarriere ins Auge zu fassen, wodurch auch das Erlernen eines Instruments obsolet wurde, ist kaum abzustreiten (Nachtrag: Das galt zumindest für Frauen, die nicht Teil des gehobenen Bürgertums waren; siehe Hausmusik). Ähnliches sollte jedoch auch für Männer gegolten haben, denn die kostengünstige Massenproduktion von Musikinstrumenten, sowie die Möglichkeiten der analogen und digitalen Tonaufnahme sind erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Realität geworden. Die Anzahl der Instrumentalisten sollte sich vor dieser Zeit also stark in Grenzen gehalten haben, da nur für wenige überhaupt die finanziellen Möglichkeiten und Erfolgsaussichten bestanden einen solchen Karriereweg einzuschlagen. Ganz zu Schweigen davon, dass die besagten Instrumente (Schlagzeug, E-Gitarre und E-Bass) in ihrer heute noch gebräuchlichen Form erst im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Es können daher maximal die letzten 80 Jahre der „geschichtlichen Hintergründe in der gesellschaftlichen Entwicklung“ als Erklärung für das Geschlechterungleichgewicht herangezogen werden.

Insofern sich diese Argumentation als korrekt erweist, sollten wir außerdem Veränderungen dieses Ungleichgewichts finden; im besten Fall korreliert mit den Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung der Frau. Wenn man sich allerdings die spärliche wissenschaftliche Literatur über dieses Thema anschaut, wird man überrascht. So schreibt Hal Abeles in seiner Publikation „Are Musical Instrument Gender Associations Changing?“ folgendes:

A comparison of the instruments played by boys and girls across three studies conducted in 1978, 1993, and 2007 showed little difference in the sex-by-instrument distribution. Girls played predominately flutes, violins, and clarinets, and most boys played drums, trumpets, and trombones.

Hier kommen wir also nicht weiter. Die empirischen Daten zeigen keine Veränderung der Präferenzen von Jungen und Mädchen bei der Wahl der Musikinstrumente. Realitätsferne Naturen könnten jetzt einwerfen: „Das liegt natürlich daran, dass sich auch die Stellung der Frau innerhalb der letzten 40 Jahre nicht verbessert hat!“. Und wer hätte es gedacht, in genau diese Kerbe schlägt auch der weitere Verlauf von Frau Suters Artikel:

Auch Fabienne Schmuki, Co-Geschäftsführerin der Zürcher Indie-Musikagentur Irascible Music, Kommissionsmitglied beim Popkredit der Stadt Zürich und Gründungsmitglied vom Musikverband Indie Suisse, findet: „Die Musikwelt ist eine Welt der Männer. In den Führungsetagen der grossen Schweizer Musiklabels gibt es kaum Frauen, wir besetzen vor allem die Positionen im Marketing oder der Kommunikation.“ Sie selbst hätten beim Berufseinstieg keine weiblichen Vorbilder gehabt. Schmuki hat, wie sie selbst sagt, eine „Männerschule“ genossen: „Ich arbeite viel mit Männern zusammen. Der Umgangston ist schon anders, rau, die Witze sind dreckiger. Aber wenn man damit keine Probleme hat, kann man sich in diesem Männerverein gut behaupten.“

[Hervorhebung nicht im Original]

Interessant ist hierbei nicht nur die Implikation, dass Frauen vermeintlich aufgrund von Geschlechterdiskriminierung seltener in den Führungsetagen großer Musiklabels sitzen. Nein, nicht nur das. Logischerweise ist diese fehlende weibliche Repräsentation in den Führungsetagen der Musiklabels auch der Grund dafür, warum Frauen weniger Interesse daran haben Schlagzeug, E-Gitarre und E-Bass zu spielen. Oder soll hier angedeutet werden, dass Musikgruppen sich auf Bestreben der Labels zusammenfinden und sozusagen „gecastet“ werden? Anderweitig lässt es sich mir zumindest nicht erklären, wie man diesen Zusammenhang herstellen kann. Sicherlich gibt es den stereotypen Fall der gecasteten Boy- oder Girlgroup. Die Mehrheit von Bands findet sich jedoch sehr oft vor dem Angebot eines Vertrags durch ein Label zusammen und ist bis zu diesem Zeitpunkt schon eine lange Zeit nicht-professionell aktiv.

Diese abstruse Mischung aus verdrehten Kausalitäten und anekdotischen Erzählungen setzt sich munter fort:

Eine Frau, die in ihrem Leben schon auf vielen Bühnen gestanden ist, ist Salome Buser. Sie spielt Bass in der Schweizer Bluesband Stiller Has. „Mir passiert es öfter, dass ich an meinen eigenen Konzerten nicht in den Backstage-Bereich gelassen werde, weil man mir nicht glaubt, dass ich zur Band gehöre“, erzählt sie. „Man sagt mir dann, ich sei doch nur ein Groupie, das reiche halt nicht, um hinter die Bühne zu kommen.“

[…]

Buser fügt an: „Vielleicht liegt es daran, dass generell weniger Instrumentalistinnen auf der Bühne stehen und wir deshalb nicht so stark als Musikerinnen wahrgenommen werden. Sondern in erster Linie als Frauen, die sich zuerst einmal beweisen müssen.“

Ein Abschnitt ließ mich dann doch laut auflachen:

Bleibt einer Musikerin also als einziger Ausweg, ihr Instrument in die Ecke zu stellen und ausschliesslich zu singen, um respektiert zu werden? Dass auch das keine Lösung ist, bestätigt die Schweizer Singer-Songwriterin Sophie Hunger: „Das Musikbusiness in der Schweiz ist sehr männerdominiert. Da hört man schnell mal: Komm Schatz, sing du, ich mach das hier mit den komischen Knöpfen!“

[Hervorhebung nicht im Original]

Ja, genau. Die Rollen in einer Band werden natürlich nach dem Geschlecht verteilt und nicht danach wer welches Instrument spielen kann oder wer eine ausgebildete Gesangsstimme besitzt.

Abschließend führt Frau Suter natürlich den heiligen Gral der Problemlösungen an und dieser lautet: Frauenförderung.

Die Hoffnung stirbt nicht

Eins ist klar: Mit dafür verantwortlich, dass es in der Schweiz weniger bekannte Musikerinnen als Musiker gibt, sind die fehlenden weiblichen Vorbilder. Und weniger Frauen auf den Bühnen bedeutet weniger Nachahmerinnen – ein Teufelskreis. Eine mögliche Lösung des Problems sieht Sibill Urweider in der ausgeglichenen musikalischen Förderung von Mädchen und Buben, um die Chancengleichheit bereits im Kindesalter voranzutreiben.

Schon im Kindesalter? Leider wird nicht näher spezifiziert, ab welchem Alter diese „ausgeglichene musikalische Förderung“ beginnen soll. Gehen wir aber einmal davon aus, dass der hier implizierte Zusammenhang korrekt ist und gesellschaftliche Normen dafür sorgen, dass Mädchen und Jungen schon im Kindesalter eine Vorstellung davon entwickeln, welche Instrumente von Frauen und welche von Männern gespielt werden sollten. Finden wir darüber Informationen in der empirischen Forschung?

Tatsächlich lassen sich Studien auffinden, die bereits in dreijährigen Kindern klare Geschlechterpräferenzen für bestimmte Instrumentengruppen aufzeigen. Die Autoren Marshall und Shibazaki schreiben in ihrem Artikel „Two studies of musical style sensitivity with children in early years“ dazu folgendes:

Results of the study suggested that even three-year-old children were able to make accurate discriminations between musical styles through the use of a broad range of referential criteria and also, we observed that a number of ‘person type’ and gender associations already appeared to be present in the attitudes and experiences of participants.

Und in einer zwei Jahre später erschienenen Studie mit dem Titel „Gender associations for musical instruments in nursery children: the effect of sound and image“ bestätigen die beiden Autoren ihre Ergebnisse. Die drei bis vier Jahre alten Kinder wurden unter zwei Bedingungen getestet: Zuerst wurden ihnen die Instrumente vorgespielt und ein Bild des jeweiligen Instruments gezeigt. In der zweiten  Bedingung bekamen die Kinder nur die Töne des Instruments zu hören.

Our current study explores the gender associations which very young children, many of whom have spent only a few months within the school system, have towards musical sounds and how these attitudes may be affected by the addition of an attendant image.

[…]

However, taken together, the results of this research appear to suggest that some form of association between very young children and the gender of individual instruments and musical styles already appears to exist in the very early stages of their educational life.

[Hervorhebung nicht im Original]

Die Kinder in dieser Studie zeigten nicht nur eine klare Geschlechterpräferenz, wenn sie die entsprechenden Instrumente sehen konnten und vorgespielt bekamen. Wurde den Kindern nur das Instrument vorgespielt, so drehte sich das Bild in die andere Richtung:

2

Eine Beeinflussung der Geschlechterpräferenzen für bestimmte Instrumente durch vorherrschende gesellschaftliche Normen und Geschlechterrollen lässt sich mit diesen Ergebnissen nicht stützen und ist daher (zumindest in diesem jungen Alter) als unwahrscheinlich einzuschätzen. Es sei denn man möchte argumentieren, dass es ein Bestandteil gesellschaftlicher Normen ist, akustische Wahrnehmungen als weiblich und optische Wahrnehmungen als männlich einzustufen.

Zusätzlich schreiben die Autoren:

Most recently, Hallam, Rogers, and Creech (2008) reported that many of the historical patterns of gender-associated instruments were still in evidence with pupils freely opting for the gendered instruments at all stages of education, and Abeles (2009), reflecting on the intervening 30 or so years since his initial studies, concluded that only limited changes had occurred in schools with certain instruments still being strongly associated with one particular gender.

[Hervorhebung nicht im Original]

In einem letzten Test konnten die Kinder dann wählen, für welche Instrumente sie sich selbst entscheiden würden. Hier ergab sich wieder die eindeutige Geschlechterpräferenz, die sich seit Jahrzehnten beobachten lässt.

3

Das junge Alter in dem die Geschlechterpräferenzen auftreten, die Konstanz mit der sich diese Präferenzen seit Jahrzehnten trotz gesellschaftlicher Veränderungen halten und die unterschiedlichen Rollenzuschreibungen bei entweder ausschließlich akustischen Reizen oder einer Kombination aus optischen und akustischen Reizen: Das alles weist auf biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern hin, die einen noch nicht näher bekannten Einfluss auf die Präferenz von Musikinstrumenten haben.

In jeder Publikation, die ich für diesen Artikel gelesen habe, wird erwähnt, dass dieses Phänomen noch viel zu wenig untersucht und daher weitere Forschung anzuraten ist. Umso überraschter war ich jedoch, dass in keiner dieser Publikationen auch nur angedeutet wird, dass die Ursachen dafür in Geschlechtsdimorphismen begründet sein könnten. Dieses Phänomen ist also auch ein Musterbeispiel dafür, wie sich Wissenschaftler der Interdisziplinarität verweigern können und stattdessen lieber weiter im Dunkeln herumfischen, anstatt einen Schritt zurückzugehen um das Gesamtbild zu betrachten.

Oder man macht es einfach wie Frau Suter und die Zeitschrift annabelle. Bietet schließlich auch die simpleren Lösungen.

Biologie-Kultur-Ideologie: Ein Modell (2)

Der nächste Schritt in meinem Biologie-Umwelt-Gesellschaft-Interaktionsmodell wird das Hinzufügen des Faktors „Wissenschaft und Technologie“ sein. Bevor ich jedoch dazu komme, ist es notwendig ein paar der von mir verwendeten Begriffe zu definieren, um mögliche Verwirrungen und Missverständnisse etwas abzudämpfen. Unter meinem letzten Post zu diesem Modell ist ja eine doch relativ hitzige Debatte entbrannt und aus diesem Grund möchte ich zwei Punkte noch einmal detaillierter aufgreifen.

Die größte Unschärfe dürfte, meiner Meinung nach, in den Begriffen „Gen“ und „Umweltfaktor“ liegen. Daher jetzt der Versuch einer Definition:

Beginnen wir mit dem Genbegriff. Dafür habe ich das Lehrbuch „Biologie“ von Campbell und Reece aus meinem Schrank geholt und entstaubt. Hier findet sich folgender Satz zur Definition eines Gens:

Ein Gen ist ein Abschnitt der DNA, der zur Herstellung eines RNA-Moleküls benötigt wird. (Biologie Campbell & Reece, 6. Auflage, S. 381)

So kommen wir jetzt also vom Regen in die Traufe. Um den Genbegriff zu verstehen, müssen wir zuerst verstehen was DNA und RNA sind.

Die Desoxyribonukleinsäuren (oder DNS/DNA) sind Makromoleküle, die genetische Informationen codieren und in allen Zellen eines Organismus reproduziert werden. Um diese genetischen Informationen auslesen zu können, wird über den Vorgang der Transkription aus einem Abschnitt der DNA ein RNA-Molekül erstellt. Die Ribonukleinsäuren (oder RNS/RNA) sind der DNA sehr ähnlich. Ein Hauptunterschied ist jedoch, dass die RNA einzelsträngig ist, während die DNA doppelsträngig ist (die bekannte Helix-Form). Weiterhin kann die RNA im Gegensatz zur DNA aus dem Zellkern geschleust werden. Das ist notwendig, da die Proteinbiosynthese (zumindest bei Eukaryoten) außerhalb des Zellkerns an den Ribosomen geschieht. Aus der übertragenen Information kann jetzt im Prozess der Translation ein Protein erstellt werden.

Das ist natürlich nur ein sehr stark gekürzter Abriss der Genexpression, sollte aber für das allgemeine Verständnis des Genbegriffs ausreichen. Noch einmal zusammengefasst:

Genetische Informationen = DNA –> RNA –> Proteine

Die Proteine stellen die Hauptbestandteile aller Zellen dar. Zellen wiederum bilden die Grundlage aller Organismen. Wir haben es hier also mit einem gerichteten Prozess zu tun, der letztendlich zum Phänotyp eines Organismus führt.

Gene sind somit Teilabschnitte der Informationen, die für die Herstellung von biologisch-aktiven Molekülen codieren.


 

Die Definition des Begriffs „Umweltfaktor“ stellt sich als etwas schwieriger heraus:

Die erste Unterteilung, über die nahezu überall Einigkeit besteht, ist die in abiotische und biotische Umweltfaktoren. Abiotische Umweltfaktoren sind ebenfalls relativ eindeutig: Hierzu zählen physikalische und chemische Faktoren wie Temperatur, Sonnenlicht, Sauerstoff, Wasser und ganz allgemein das Vorhandensein von Nährstoffen/Ressourcen.

Was alles unter die Kategorie der biotischen Umweltfaktoren fällt, ist jedoch weniger klar: Klassischerweise (d.h. wenn wir uns die Dynamiken von Tierpopulationen anschauen) werden hierzu Prädation, Parasitismus, Konkurrenz und Symbiose gezählt. Alle diese Konzepte beziehen sich jedoch auf die Interaktionen zwischen verschiedenen Arten. Innerhalb einer Art bzw. einer Population gibt es natürlich auch Faktoren wie Konkurrenz und Kooperation. Zusätzlich finden wir hier noch die sexuellen (sexuelle Selektion) und sozialen Interaktionen (z.B. Brutpflege).

Es gibt hier also einen klaren Bruch zwischen inter- und intraspezifischen Wechselbeziehungen und diesen möchte ich auch noch einmal in meinem Interaktionsmodell verdeutlichen. Gesellschaft und Kultur der Spezies Mensch kategorisiere ich unter den intraspezifischen Wechselbeziehungen, was sich daher auch in der Position dieses Faktors in meinem Modell niederschlägt. Im Gegenzug dazu setzen sich die Umweltfaktoren an der Basis des Modells aus abiotischen und interspezifischen biotischen Faktoren zusammen. Das aktualisierte Modell sieht dann folgendermaßen aus:

Modell1B
Biologie-Umwelt-Gesellschaft-Interaktionsmodell 1b

Laci Green versteht nicht: Männliche Verhütung

Es stellt definitiv eine Kunstform dar, aus dem Mangel an verschiedenen Möglichkeiten der männlichen Verhütungsmethoden eine Benachteiligung von Frauen zu konstruieren. Allerdings ist das bei der im Titel genannten Person auch kein Wunder, da Frau Green ja bereits seit vielen Jahren ein Profi im Jonglieren von Fakten ist.

Grundsätzlich muss man es ihr ja erst einmal zugute halten, dass sie sich überhaupt aus diesem Winkel dem Thema Verhütungsmethoden und Reproduktionsrechte annähert. Und wie sie auch direkt in Minute 0:15 des Videos sagt, gibt es 11 verschiedene Optionen für Frauen um eine Schwangerschaft zu verhindern. Im Gegensatz dazu gibt es für Männer nur zwei: Kondome oder eine Vasektomie. Gerade letzteres dürfte für viele Männer keine ernsthafte Option sein, da sie (in vielen Fällen) nicht reversibel ist.

Wenn Frau Green im Video dann allerdings zu den Gründen kommt, warum dieses Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Verhütungsmethoden besteht, dann kommt die internalisierte Narration wieder zum Vorschein: Fortpflanzung ist Frauensache! Und nur deshalb  wird so viel Geld in die Erforschung von weiblichen Verhütungsmitteln investiert! Sexismus!

Dabei spricht sie kurz vorher schon das eigentliche Problem an: Die Reproduktionsmechanismen von Frauen und Männern sind unterschiedlich und stellen damit Entwicklung und Forschung auch vor unterschiedlich schwere Hürden. Selbst wenn die Reproduktionsmechanismen von Frauen insgesamt deutlich komplexer sind als die von Männern, so finden wir bei Frauen jedoch einen großen, vorteilhaften Unterschied: Frauen besitzen bereits einen eingebauten Mechanismus, der sie für einen definierten Zeitraum nicht-empfänglich macht. Diesen Vorgang mit einer täglichen Gabe bestimmter Hormone (Östrogene und Gestagene) dauerhaft zu aktivieren, ist deutlich einfacher, als einen vergleichbaren Mechanismus im Mann künstlich zu erschaffen. Dies dürfte einen entscheidenden Einfluss darauf gehabt haben, dass sich Forschungsvorhaben auf weibliche Verhütungsmethoden fokussiert haben.

Und es ist auch nicht so, als ob männliche Verhütungsmethoden nicht entwickelt wurden und immer noch werden. Allerdings stand man bisher vor dem Problem, dass eine rein hormonelle Methode im Mann eben keinen Mechanismus vorfindet, den sie „zweckentfremden“ könnte. Zumindest nicht ohne sehr starke Nebenwirkungen. Hinzu kommt, dass die notwendige Gabe von Testosteron nicht einfach über eine Pille erfolgen kann, da es sonst durch die Leber in Östrogen umgewandelt wird, bevor es den Wirkort erreichen kann. Deutlich invasivere Eingriffe sind also von Nöten.

Aber Frau Green hat auch dafür eine Lösung: Seit 15 Jahren kommt eine männliche Verhütungsmethode in Indien zum Einsatz, die „completely safe and reversible“ ist. Na, das klingt doch wunderbar! Zumindest so lange, bis man eine kurze Googlesuche zur Reversible inhibition of sperm under guidance oder auch RISUG vornimmt. Die Sicherheitsstandards für pharmazeutische oder medizinische Produkte scheinen in Indien ja dann doch deutlich weniger streng als in westlichen Ländern zu sein. Oder Frau Green erzählt einfach Bullshit und die Methode befindet sich dort ebenfalls noch in der Testphase. Auf PubMed finden wir unter dem Suchbegriff RISUG gerade mal 23 veröffentlichte Studien, von denen einige „nur“ Review-Paper darstellen, in denen auf die Methode hingewiesen wird. Überfliegt man die Studien kurz, wird eines klar: Diese Methode ist noch lange nicht so weit, als dass sie sich in den nächsten Jahren als weit verbreitete Option für die männliche Verhütung etablieren wird. Inwieweit RISUG sicher ist und z.B. keine Genotoxizität aufweist, wird sich erst noch in weiteren Tierstudien und klinischen Untersuchungen an Humanprobanden zeigen müssen.

Unabhängig davon würde ich mir persönlich jedoch zweimal überlegen, ob ich mir eine Substanz in den Genitalbereich spritzen lasse oder ob ich einfach noch so lange abwarte bis es eine vergleichbar einfache Applikationsmethode, wie die Antibabypille, für Männer gibt.

Trotz allem wissen wir jetzt aber (mal wieder): Weniger Freiheit = Mehr Privilegien.

Die Geschichte von den Orcas und wie Kultur (nicht) die Evolution beeinflusst

Vielen Menschen kann ich es ja eigentlich gar nicht verübeln, dass sie empirische Daten aus bestimmten Studien nicht (oder nur halb) verstehen und daher Zusammenhänge falsch darstellen. Nicht jeder beschäftigt sich privat oder beruflich mit der biologischen Forschung und gerade in diesem Wissensfeld werden Standpunkte und Meinungen aus Halbwissen und Bauchgefühl geboren, da man meint über etwas zu philosophieren, dass man ja aus erster Hand tagtäglich erfährt. Man ist ja schließlich selbst Teil des organischen Lebens auf diesem Planeten.

Wenn sich aber eine Webseite mit dem Namen „New Scientist“ auf das gleiche Niveau begibt, dann zerreißt es mir unverzüglich die Samthandschuhe:

Orcas are first non-humans whose evolution is driven by culture

Ahja. Die genetische Evolution von Orcas wird also durch deren Kultur beeinflusst und sozusagen „geführt“.

Bereits im ersten Absatz des Artikels werden dann aber plötzlich ganz andere Töne angeschlagen:

Many researchers accept that cultural experiences have helped shape human evolution

Das kann man durchaus unterschreiben, je nachdem wie man Kultur („cultural experiences“) definiert. Im Originalartikel, auf den sich der Artikel des „New Scientist“ bezieht, findet sich folgende Definition für Kultur:

Culture has been broadly defined as information that is capable of affecting individuals’ behaviour, which they acquire from other individuals through teaching, imitation and other forms of social learning. (Quelle: Foote et al. 2016)

Mit dieser Definition von Kultur habe ich ebenfalls kein Problem. Für Vorgänge, bei denen ein, vermutlich ursprünglich spontan auftretendes, Verhalten in einer Population durch Lernen und Imitation zwischen Individuen weitergegeben wurde und dadurch als fester Bestandteil des Verhaltensrepertoire etabliert wird, lassen sich viele Beispiele finden. Hierzu zählt z.B. das Domestizieren von Kühen, und dem folgend, das verstärkte Auftreten von Laktose-Verträglichkeit im Erwachsenenalter in menschlichen Populationen mit Siedlungsgebieten in Mittel- und Südosteuropa. Dieses Beispiel wird ebenfalls im „New Scientist“-Artikel aufgegriffen und der Autor schießt damit dann auch direkt den Vogel ab:

Human genomes have evolved in response to our cultural behaviours: a classic example is the way that some human populations gained genes for lactose tolerance following the onset of dairy farming. (Quelle: New Scientist)

Menschliche Populationen haben also Gene erhalten, als Folge von kulturell erworbenem Verhalten? Auch auf die Gefahr hin, dass ich hier den Eindruck der Haarspalterei erwecke, so ist die verwendete Formulierung doch mehr als irreführend. Und das klärt auch das Paper auf, welches der Autor in seinem Satz verlinkt hat. Dort liest sich Folgendes:

For instance, several lines of evidence show that dairy farming created the selective environment that favoured the spread of alleles for adult lactose tolerance. (Quelle: Laland et al. 2010)

Das ist ja dann doch ein kleiner Unterschied. Die Gene/Allele waren also bereits in der Population vorhanden und konnten sich aufgrund der veränderten Umweltbedingungen (zu denen auch Kultur und Gesellschaft zählen) in der Population verstärkt ausbreiten, da Menschen mit Laktose-Verträglichkeit bessere Überlebenschancen durch die zusätzliche Nahrungsquelle hatten. Kultur verändert also nicht die Gene, sondern fokussiert die Ausprägung bestimmter, vorteilhafter Allele im Phänotyp in Abhängigkeit der Umweltfaktoren. Auch hier finden wir eine hierarchische Struktur wieder, bei denen eine kulturelle Veränderung nur auf Basis der Gene und der Umweltfaktoren stattfinden kann.

Kommen wir jetzt wieder zurück zum Ursprungsartikel und der Geschichte von den Orcas. In dieser Spezies finden wir also einen analogen Prozess: Verschiedene Sub-Populationen von Orcas haben jeweils eigene ökologische Nischen erobert und zeigen unterschiedliche Verhaltensweisen z.B. in der Beutejagd. Dass sich diese Sub-Populationen aufgrund der räumlichen Trennung und des Gründereffekts auf genetischer Ebene unterscheiden, ist ebenfalls zu erwarten. Warum der Autor jedoch versucht hier die Kausalität umzudrehen und der „Kultur der Orcas“ die Fähigkeit zuspricht, ihre eigene genetische Grundlage zu beeinflussen, bleibt im Dunkeln.

Um es noch einmal vereinfacht zu formulieren: Die Gene legen fest, in welchem Rahmen sich Verhaltensweisen ausprägen können (Verhaltensflexibilität bzw. Verhaltensplastizität) und die herrschenden Umweltbedingungen fördern oder behindern die Ausprägung spezifischer Verhaltensweisen.

Im Fall der Orcas gibt es also zwei Möglichkeiten: Entweder besaßen die Orcas bereits eine sehr hohe genetische Diversität, die dann wiederum eine sehr hohe Verhaltensplastizität erlaubte oder durch den Gründereffekt kam es in den Sub-Populationen zu einem genetischen Drift, der dann wiederum die Ausprägung der jetzt beobachtbaren Verhaltensunterschiede ermöglichte. Keine dieser beiden Möglichkeiten schließt die andere aus und eine Kombination beider Effekte ist denkbar.

Was jedoch nicht passiert ist, ist dass eine Sub-Population der Orcas eine über deren Kultur vermittelte Verhaltensweise erlernt hat, welche dann für die Entstehung der dazu passenden Gene/Allele verantwortlich war. Kultur kann nur mit dem Material arbeiten, welches die Gene liefern. Und „Wissenschaftsjournalismus“ sollte man immer mit Skepsis begegnen.

Biologie-Kultur-Ideologie: Ein Modell

In einem meiner vorangegangen Beiträge hatte ich ja bereits auf das Video von Coltaine über sein Modell der hierarchischen Struktur von Biologie, Kultur und Ideologie hingewiesen. Er vergleicht die 3 Elemente mit einem Computer, bei dem die Hardware den Spielraum für das kompatible Betriebssystem vorgibt, welches dann wiederum die Grenzen für die Kompatibilität bestimmter Software festlegt:

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Modell über die hierarchische Struktur von Biologie, Kultur und Ideologie analog zu einem Computersystem. (Quelle: Coltaine)

Die Software eines Betriebssystems hat wenig bis gar keinen Einfluss auf das ihr zugrunde liegende Betriebssystem. Natürlich gibt es z.B. Viren, welche die Integrität des Betriebssystems gefährden können. Aus einem Windows wird aber durch Softwareeingriffe niemals ein Apple-OS. Analog dazu kann ein Betriebssystem nicht die Hardware verändern, welche die Basis für dessen Funktionalität bildet. Eine 64-Bit Version von Windows wird niemals auf einer 32-Bit Hardware-Architektur laufen können und das Betriebssystem hätte auch nicht die Fähigkeit, eine solche Veränderung der Hardware vorzunehmen.  Eine simple und zugleich effektive Analogie.

Zusätzlich stützt er sein Modell mit einer handvoll Daten über den Verlauf von, unter anderem, Scheidungsraten, Geburtenraten, Zunahme von Kriminalität und der Menge alleinerziehender Mütter nach dem zweiten Weltkrieg in den USA. Von diesen finde ich vor allem sein Beispiel über die Einführung der Antibabypille und deren soziale Folgen als hochinteressant:

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Verlauf von Geburtenrate (braune Linie, invertiert) und Scheidungsrate (rote Linie) nach Einführung der Antibabypille im Jahr 1960. Politische Maßnahmen zur Erleichterung von Scheidungen waren immer nur eine reaktionäre Handlung auf bereits bestehende kulturelle/gesellschaftliche Veränderungen und nicht deren Auslöser. (Quelle: Coltaine)

Aus diesen Daten wird ersichtlich, dass eine Veränderung auf phänotypischer Ebene (größere Freiheit und Kontrolle über potenzielle Schwangerschaften) zuerst zu einer kulturellen/gesellschaftlichen Veränderung führte (steigende Scheidungsraten). Erst einige Jahre nachdem dieser Trend bereits in vollem Gange gewesen ist, reagierte die Politik und erleichterte mit den No Fault Divorce Gesetzen die Möglichkeit einer Scheidung. Politik kann unter diesem Modell nur nachträglich auf eine sich bereits verändernde Gesellschaft reagieren. Weiterhin folgt ein kultureller/gesellschaftlicher Shift in Abhängigkeit einer Veränderung auf phänotypischer Ebene.

Ich möchte dieses Modell von Coltaine erweitern und habe daher eine Abwandlung dieser hierarchischen Struktur erstellt:

Modell1_VarianteA
Biologie-Umwelt-Gesellschaft-Interaktionsmodell 1

Wie ich in meinem Beitrag über biologischen Determinismus bereits ausgeführt habe, wirken Umweltfaktoren und Gene als eine Einheit und stehen daher in meinem Modell auch auf einer gleichwertigen Stufe. Der Phänotyp umfasst alle morphologischen und physiologischen Merkmale des Menschen, welche auch weitgehend unabhängig von gesellschaftlichen oder kulturellen Einflüssen existieren (z.B. Stoffwechsel, Wachstum, Fortpflanzung, kulturübergreifende Verhaltenstypologien wie das kindliche Spielverhalten oder die Bewertung von Schönheit). Gesellschaft und Kultur bezieht sich entsprechend auf unterschiedlich ausgeprägte Aspekte zwischen verschiedenen Kulturen, die sich unter anderem mit unterschiedlichen Umweltbedingungen erklären lassen (z.B. kulturelle Unterschiede in Essgewohnheiten, die sich mit wärmeren Klima, und daraus folgend mit höheren Pathogenkonzentrationen in der Nahrung, erklären lassen). Ungleich zu Coltaines Analogie mit einem Computer ist mein Modell durchlässiger, wenn es um Top-Down-Einflüsse geht: Starke (bzw. autoritäre) politische Maßnahmen und ideologische Vorgaben können durchaus größere gesellschaftliche Veränderungen zur Folge haben. Ebenso können gesellschaftliche/kulturelle Shifts den Phänotyp von Individuen dieser Gesellschaft beeinflussen. Der mögliche Einfluss wird aber immer schwächer, je weiter wir uns in der Hierarchie nach unten begeben. Die Basis (Umwelt x Gene) bleibt davon daher unbeeinflusst und diese Veränderungen sind hauptsächlich Ausdruck der Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Spezies Mensch.

Dieses erste Modell einer Biologie-Umwelt-Gesellschaft-Interaktion ist noch unvollständig, da hier ein wichtiger Faktor fehlt: Wissenschaft und Technologie. Wie diese Elemente in mein Modell hinein spielen und welche Eingriffe diese in Bezug auf Umweltfaktoren und Gene ermöglichen, werde ich im nächsten Beitrag näher erläutern und ein erweitertes Modell vorstellen. Bis dahin freue ich mich natürlich über Meinungen und Kritik zum vorgestellten Modell.

Doktorant empfiehlt: Coltaine über Biologie, Kultur und Ideologie

Coltaine analysiert in diesem Video unter anderem die Fragestellung, wie erfolgversprechend die Forderung nach politischen und sozialen Veränderungen sein kann, wenn diese nicht von den „kulturellen Umweltbedingungen“ gestützt werden. Seine Hypothese postuliert eine hierarchische Struktur von Biologie > Kultur > Ideologie, in der Top-Down-Veränderungen nur schwer zu realisieren sind.

Interessant sind vor allem die Abschnitte ab Minute 12:52 und Minute 19:55. Die Korrelationen zwischen verschiedenen Datensätzen, die Coltaine hier präsentiert, sollten definitiv einige Fragen aufwerfen.

Seine Hypothesen sollten natürlich kritisch betrachtet und diskutiert werden. In einem kommenden Post werde auf Teile seines Videos noch einmal detaillierter Bezug nehmen.

Doktorant empfiehlt: tl;dr über Ideologie in der Datenanalyse

tl;dr erklärt uns in diesem Video vier mögliche Interpretationen eines empirischen Befundes (Gender Wage Gap) unter jeweils einem anderen theoretischen Bezugsrahmen: Feminismus, Libertarismus, libertärer Feminismus und Evolutionspsychologie:

Fazit: Erkenntnistheoretische Bezugsrahmen sind am besten geeignet, um Interpretationen aus ideologisch-geprägten theoretischen Bezugsrahmen zu widerlegen. Dieser „Kampf der Ideen“ wird allerdings durch eine Fülle an feministischen Hypothesen erschwert, für die es zwar wenige bis keine empirischen Befunde gibt, diese aber durch permanente Wiederholung und gegenseitige Zitierungen den Status anerkannter Theorien erlangt haben (Patriarchatstheorie, Privilegientheorie, Theorie des Geschlechts als soziale Konstruktion, etc.) und in vielen Personenkreisen innerhalb und außerhalb der Akademia als objektive Fakten anerkannt werden.  Daher müssen empirische Wissenschaftskonzepte eine ausreichende Alternative an Theorien aufbauen, welche anschließend den Platz feministischer Theorien einnehmen können.

Myth-Busting: Biologischer Determinismus

Etwas, das immer wieder in (Online)Diskussionen in der Geschlechterdebatte auftaucht, ist der Vorwurf des biologischen Determinismus. Dieser Begriff ist bereits vor einiger Zeit in das gedankliche Allgemeingut übergegangen, obwohl es selbst in (naturwissenschaftlichen) akademischen Zirkeln keinen Konsens darüber gibt, was denn eigentlich einen biologischen Determinismus ausmachen würde und welche Positionen jemand halten muss, um als Vertreter eines solchen Determinismus bezeichnet zu werden.

Weiterhin entpuppt sich dieser bei näherer Betrachtung als nichts weiter als ein Strohmann: Niemand, der sich ernsthaft mit der Thematik auseinandersetzt und zumindest einen Funken intellektueller Redlichkeit innehat, wird seine Unterschrift unter folgende Definition setzen:

 

biologischer Determinismus:

die These, nach der der Mensch ausschließlich oder überwiegend von seiner biologischen Natur bestimmt wird und nicht von seiner sozialen bzw. kulturellen Umwelt

Diese Definition beinhaltet vermutlich bewusst die Abschwächung „überwiegend“, um nicht sofort als redundant abgestempelt zu werden. Blöderweise erlangt sie dadurch aber auch den Status „schwammig“. Denn, wie oben schon erwähnt, welche Positionen oder wie viele von diesen muss man denn halten, um mit seinem Standpunkt unter die Kategorie des biologischen Determinismus zu fallen?

Gene agieren immer in einer Umwelt. Die Selektion von Genen erfolgt durch Umweltfaktoren. „Erfolgreiche“ Gene sind in der Lage sich unter vielen verschiedenen Umweltbedingungen durchzusetzen. Daraus folgt: Variation in phänotypischen Ausprägungen (zu denen auch das Verhalten zählt) ist vorteilhaft. Anpassungsfähigkeit ist somit selbst nur eine selektierte Anpassung. Die Interaktion von Genen und Umwelt ist eine intrinsische Eigenschaft jeder Überlegung, jedes Gedanken, jeder Studie und jeder Diskussion über menschliches Verhalten.

Verhaltensplastizität lässt sich also wunderbar mit einem biologischen Modell erklären. Dazu muss und sollte niemand der Auffassung sein, dass Gen A automatisch zu Verhalten B führt. Gleichzeitig lassen sich aber statistische Trends in räumlich getrennten Populationen (z.B. kulturelle Unterschiede in Essgewohnheiten) und in physiologisch unterschiedlichen Populationen (Geschlecht) finden, die entweder eine Anpassung gleicher Gene an unterschiedliche Umweltfaktoren oder eine Anpassung unterschiedlicher Gene an gleiche Umweltfaktoren darstellen.

Eine Frage, die sich hier jedoch stellen kann, ist: Wie stark ist der Einfluss der Gene oder der Umweltfaktoren auf die phänotypischen Ausprägungen einer Population? Hierzu möchte ich in Kürze einen Abschnitt über kognitive Leistungsfähigkeit (vgl. Intelligenz) und deren Abhängigkeit von Genen bzw. Umwelt aus einem Vortrag von Onur Güntürkün paraphrasieren, an dem ich vor einiger Zeit im Publikum beisitzen konnte.

Nehmen wir an, es gibt eine Stadt. In dieser gibt es keine Barrieren, die Bürger können frei reisen und Partnerschaften entstehen zwischen Bürgern aller Stadtteile (homogener Genpool). Jetzt kommt es jedoch durch politische Verwerfungen zu einem Zwist und als Folge dessen wird die Stadt in einen Nord- und einen Südbereich aufgeteilt. Da sich im Norden große Mengen an Bodenschätzen befinden, entstehen unterschiedliche Lebensverhältnisse (vgl. Umweltbedingungen) in beiden Stadtteilen: Wir haben einen reichen Norden und einen armen Süden.

Wie unterschiedlich stark wirken jetzt Gene und Umweltfaktoren auf die durchschnittliche Intelligenz dieser beiden Populationen? Im Norden würden wir einen großen Einfluss der Gene erwarten. Da die Umweltbedingungen hier nahezu perfekt sind können genetische Unterschiede ihre volle Wirkung entfalten. Selbst geringe genetische Unterschiede in dieser sonst homogenen Gruppe können dazu führen, dass Einzelpersonen besser oder schlechter abschneiden als andere.

Aber wie sieht es im armen Süden aus? Hier spielen Gene nur eine untergeordnete Rolle. Selbst größere genetische Unterschiede würden durch die schlechten Umweltbedingungen überschattet werden. Und in der Mehrheit der Fälle würden Personen aus dem armen Süden schlechter abschneiden, als Personen aus dem reichen Norden.

GeneVsUmwelt1

Wie Herr Güntürkün am Ende zusammenfasste: Die Frage danach, ob denn jetzt eher die Gene oder die Umwelt verantwortlich sind, ist bereits falsch gestellt. „It’s not even wrong.“

Biologischer Determinismus existiert nicht.

Gene lassen sich nicht losgelöst von Umweltfaktoren betrachten und umgekehrt. Die Umwelt stellt die Struktur, in die sich ein Organismus auf Basis seiner genetischen Grundlage einfügt. Ändert sich die Struktur, ändert sich auch der Organismus. Oder er bekommt keine Gelegenheit mehr seine Gene an die nächste Generation weiterzugeben.