Identitätspolitik – Eine Analyse

Was bedeutet eigentlich Identitätspolitik und welche Auswirkungen haben aktuelle identitätspolitische Bestrebungen in unseren modernen, liberalen Gesellschaften? In diesem Video befasse ich mit diesen Fragen und führe eine umfragreiche Analyse in Bezug auf Identitätspolitik, Kollektivismus und Individualismus durch, indem ich mich auf Forschungsergebnisse aus der Verhaltens- und Evolutionsbiologie berufe. Viel Spaß!

[Transkript]

Politische Zugehörigkeit ist für viele Menschen ein wichtiger Indikator, um den Wertekanon und die ideologische Ausrichtung eines Gegenübers korrekt einzuordnen. So könnte man aus der Mitgliedschaft oder der informellen Zugehörigkeit einer Person zu einer Partei, wie der CDU, herauslesen, dass diese Person mit hoher Wahrscheinlichkeit ein konservatives und traditionalistisches Weltbild besitzt. Doch wie bei jeder Form der Kategorisierung gibt es hier einige Fallstricke. Die besagte Person könnte nämlich auch einfach nur Bundeskanzlerin Angela Merkel als besonders kompetent und eloquent einschätzen, gleichzeitig aber mit den sonstigen Werten, die von der gesamten CDU vertreten werden, nicht übereinstimmen.

Eine Selbstzuschreibung der politischen Zugehörigkeit in einem zweidimensionalen Modell, wie es z.B. auf der Webseite politicalcompass.org möglich ist, erlaubt eine abstrakte und parteiungebundene Einordnung der eigenen ideologischen Überzeugung. Mit Hilfe einer Reihe an allgemeinen Fragen lässt sich das eigene Weltbild auf einer wirtschaftspolitischen und einer gesellschaftspolitischen Achse ermitteln. Auf beiden Achsen erstreckt sich ein Spektrum zwischen autoritären und liberalen Überzeugungen. Im Einzelnen werden auf der X-Achse wirtschaftsautoritäre Überzeugungen mit „politisch links“ gekennzeichnet, während wirtschaftsliberale Überzeugungen mit „politisch rechts“ gekennzeichnet werden. Auf der Y-Achse ergibt sich ein analoges Bild: Hier werden gesellschaftspolitische Überzeugungen, die dem Individuum mehr persönliche Freiheiten zugestehen als „liberal“ gekennzeichnet und Einschränkungen der persönlichen Freiheiten zugunsten der gesamten Gesellschaft, also des Kollektivs, werden als „autoritär“ gekennzeichnet.

Kollektivismus beschreibt also ein System von Normen und Werten, in dem das Wohlergehen des Kollektivs die höchste Priorität einnimmt, auch zum Nachteil Einzelner innerhalb des Kollektivs. Der Gegenentwurf zum Kollektivismus ist der Individualismus, bei dem das Wohlergehen und die Rechte des Einzelnen im Mittelpunkt stehen.

So würde die Befürwortung eines Abtreibungsverbot die eigene Position in diesem Modell in Richtung „autoritär“ verschieben; eine Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Frau in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs würde die eigene Position in Richtung „liberal“ verschieben. Wichtig ist es hierbei auch den Blick auf die abstrakte Ebene nicht zu verlieren. Die Befürwortung eines Abtreibungsverbots ist nicht nur eine gesellschaftsautoritäre Überzeugung, weil damit das Selbstbestimmungsrecht der Frau eingeschränkt wird, es handelt sich gleichzeitig auch um eine kollektivistische Überzeugung. Der Staat, die Gesellschaft, das Kollektiv profitiert von einer höheren Geburtenrate und aus diesem Grund ist es für eine Person mit gesellschaftsautoritärer Ideologie vollkommen legitim und gerechtfertigt, das Selbstbestimmungsrecht des Individuums zugunsten des Kollektivs einzuschränken.

Autoritäre Überzeugungen sind also eng mit kollektivistischen Ansichten verknüpft, während liberale Überzeugungen grundsätzlich mit der Befürwortung von Individualrechten einhergehen. Diese unterschiedlichen Überzeugungen haben weiterhin direkten Einfluss auf die Wahl der Methoden, also der Vorgehensweise, um die eigenen politischen Überzeugungen durchzusetzen. Kollektivistische Überzeugungen rechtfertigen autoritäre Vorgehensweisen, die die Individualrechte missachten können, während individualistische Überzeugungen nur mit Berücksichtigung der persönlichen Freiheiten jedes Einzelnen durchgesetzt werden können.

Weil die politische Zugehörigkeit für viele Menschen eine so wichtige Information darstellt, wurde ich bereits zu Beginn meiner Zeit auf Youtube mit der Frage danach konfrontiert. „Welche Partei würdest du wählen?“ oder „Ordnest du dich eher links oder rechts ein?“ waren häufige Kommentare, die ich unter meinen Videos lesen konnte. Ich beantwortete diese auch immer wahrheitsgemäß mit meinem Ergebnis des politischen Kompass, nach dem ich eindeutig im linksliberalen Quadranten anzusiedeln bin. Das bedeutet, dass meine ideologische Überzeugung vorrangig wirtschaftsautoritär und gesellschaftsliberal ist. Ich stehe damit für Individualrechte ein und äußere mich gegen kollektivistische Politik, wenn es um soziale und gesellschaftliche Aspekte geht. Aus dieser ideologischen Überzeugung, also meiner Weltanschauung, heraus speist sich auch meine Abneigung gegen eine Sonderform des Kollektivismus, der sogenannten Identitätspolitik. Doch was ist Identitätspolitik eigentlich?

Es existiert keine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs Identitätspolitik, wodurch dessen Verwendung häufig zu Verwirrung führt, gerade im deutschen politischen Diskurs. Der Politikwissenschaftler Nikolaus Werz definiert Identitätspolitik als eine „bewusst gesetzte Grenzziehung zwischen dem Eigenen (die dazu gehören) und dem Anderen (die ausgeschlossen sind). Problematisch sind [aus seiner Sicht] Festschreibungen kollektiver Identität, zumal Wissenschaftler eigentlich vom einzelnen Individuum ausgehen.“ Auch wenn es sich dabei nur um eine mögliche Auslegung der Definition des Begriffs Identitätspolitik handelt, wird schnell klar, dass zum einen eine Unterscheidung des Identitätsbegriffs auf individueller und kollektiver Ebene notwendig ist und es sich zum anderen um eine politische Vorgehensweise handelt, bei der eine oder mehrere Formen der bewussten Abgrenzung betrieben werden.

Bevor wir die Unterscheidung in individuelle und kollektive Identität jedoch treffen können, müssen wir die Definition des Begriffs Identität selbst klären: Leider ist auch die wissenschaftliche Debatte um das Konzept der Identität noch nicht ausgefochten und deshalb finden sich verschiedene Erklärungsansätze dafür was Identität eigentlich bedeutet. Die psychologische Forschung ist sich jedoch weitgehend darüber einig, dass es sich bei der Identität um ein dynamisches Selbstkonzept handelt. Also das Wissen über persönliche Merkmale, d.h. Charaktermerkmale, Fähigkeiten, Vorlieben und Gefühle; über alles das was uns besonders macht. Diese Eigenschaften sind nicht statisch, sondern stehen in ständiger Wechselwirkung mit dem sozialen Umfeld. Der Begriff Identität beschreibt also in erster Linie die sogenannte persönliche Identität, welche einem lebenslangen Wandel unterliegt.

Daraus ergibt sich ein wichtiger Schluss für die Beurteilung der Identitätspolitik: Identitätspolitische Handlungen auf Basis des Individuums zu beschreiben ist eine Tautologie. Jedes Individuum ist und hat  eine einzigartige Identität, grenzt also permanent das Eigene vom Anderen ab und agiert daher auch immer zwangsläufig identitätspolitisch. Es ist unmöglich die identitätsbildenden Erfahrungen die ein Mensch in seinem Leben macht von seiner Person zu trennen, seien es nun positive oder negative Erlebnisse, Herkunft, Erziehung, das Aufwachsen in Reichtum oder Armut, Zugang zu Bildung, religiöse und gesellschaftliche Bräuche und so weiter. Der Einzelne, in seiner momentanen Geisteshaltung, ist immer eine Summe seiner Erfahrungen, die durch seine soziale Umwelt und seine biologische bzw. genetische Ausstattung ohne Unterlass moduliert wurde und bis zu seinem Ableben moduliert werden wird.

Kollektive Identität ist jedoch ein gänzlich anderes Spielfeld. Die Soziologen Francesca Polletta und James M. Jasper definieren kollektive Identität in ihrer Veröffentlichung „Collective Identity and Social Movements“ aus dem Jahr 2001 wie folgt: „Kollektive Identität ist die kognitive, moralische und emotionale Verbindung eines Individuums mit einer größeren Gemeinschaft, Kategorie, Vorgehensweise oder Institution. Es ist die Wahrnehmung eines gemeinsamen Zustands oder einer Verbindung, welche eher eine Vorstellung ist als direkt erfahren wird, und welche sich zwar eindeutig von persönlichen Identitäten unterscheidet, aber dennoch Teil einer persönlichen Identität sein kann.“

Kollektive Identität basiert also nicht zwangsläufig auf persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen, welche über die Zeit das eigene Denken und die eigene Weltanschauung geformt haben. Kollektive Identität ergibt sich auch nicht aus der Summe einer bestimmten Menge persönlicher Identitäten, sondern basiert primär auf einer Vorstellung oder einer geglaubten Verbindung mit anderen. Dadurch handelt es sich um eine soziale Konstruktion, welche mit ausreichend Zeit und genügend Überzeugungskraft zum Teil einer persönlichen Identität werden kann. Lassen sich aber möglicherweise auch biologische Argumente für das Entstehen kollektiver Identitäten, abseits von sozialer Konstruktion, finden?

[Kollektivismus und die Dunbar-Zahl]

Der Anthropologe Robin Dunbar entwickelte ein Konzept, welches heute als „Dunbar-Zahl“ bezeichnet wird. Dunbar veröffentlichte im Jahr 1993 eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel „Coevolution of neocortical size, group size and language in humans“ und beschrieb darin den Zusammenhang zwischen der Größe des Neocortex und der maximalen Menge an Individuen einer Spezies, die sich zu stabilen Gruppenverbänden zusammenschließen können. Dunbar argumentiert, dass der Mensch anhand der durchschnittlichen Größe seines Neocortex, also dem Bereich des Gehirns, welcher für höhere kognitive Funktionen wie die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen und Sprache zuständig ist, abschätzen lässt, dass menschliche Gruppenverbände eine Größe von maximal 150 – 250 Individuen erreichen und dabei gleichzeitig über lange Zeiträume stabil bleiben können. Größere Gruppenverbände lassen den Zusammenhalt schwinden und führen zum Zusammenbruch der Strukturen. Er belegt seine Hypothese mit empirischen Daten aus verhaltensbiologischen Analysen der Gruppengrößen verschiedener Primatenarten und anthropologischer Untersuchungen sozialer Verbände des Menschen.

So zeigen zum einen die Größen verschiedener Sammler- und Jagdgruppen von Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans den gleichen Zusammenhang mit der jeweiligen relativen Größe des Neocortex. Zum anderen findet sich ein Zusammenhang bei sowohl den Klans und Stammesgruppen indigener Völker Neuguineas, als auch bei den militärischen Verbänden verschiedener Nationen ab dem 16. Jahrhundert. Einzelne Kompanien bestanden grundsätzlich aus 100 bis maximal 300 Individuen, da sich diese Verbandsgrößen als stabile Gruppen herausgestellt hatten.

Besonders wichtig hierbei ist, dass die Kriterien für das Zusammenfinden aller dieser Gruppen nicht auf genetischer Verwandtschaft beruhen müssen. Dies lässt sich zwar oft beobachten, vor allem bei den Beispielen indigener Völker und nicht-menschlicher Primaten, doch selbst bei diesen konnte gezeigt werden, dass gemeinsame Interessen der primäre Aspekt für das Formen von Gruppenverbänden sind, während Verwandtschaft und Familienzugehörigkeit nur einige von vielen sozialen Faktoren darstellen. So finden sich z.B. Meerkatzen auch zu außerfamiliären Gruppen zusammen, wenn dies durch ökonomische und andere soziale Bedingungen begünstigt wird. Ähnliches gilt für die militärischen Verbände frühneuzeitlicher Staaten und Nationen. Auch hier bestand in der Regel keine Verwandtschaft zwischen den Soldaten einer Truppe.

Aus dieser empirischen Grundlage ergibt sich die Schlussfolgerung, dass menschliche Sozialverbände aufgrund kognitiver Grenzen nicht mehr als ca. 150 – 250 Individuen beinhalten können sollten. Innerhalb dieser Dimensionen ist aber prinzipiell die Existenz einer kollektiven Identität, z.B. aufgrund von Verwandtschaft und familiären Bünden, denkbar. Doch wenn wir uns das soziale und politische Geflecht der Spezies Mensch anschauen, dann wird schnell klar: Nur noch sehr wenige menschliche Gruppen weisen diese verhältnismäßig geringen Größen auf. Die Regel sind hingegen Super-Gruppen, Nationalstaaten von der Größe mehrerer Millionen Individuen, die sich als kohärente Gesellschaft verstehen und die für Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte stabil bleiben können. Faktoren wie Verwandtschaft können hier nahezu keine Auswirkungen auf die Stabilität dieser Gesellschaften haben, da die schiere Größe dieser Super-Gruppen die kognitiven Fähigkeiten und damit den bewussten und unbewussten Wahrnehmungshorizont des Individuums überschreitet. Der Verwandtschaftsgrad zwischen einem Menschen in Berlin und einem Menschen in München ist für beide Personen nicht erfassbar, vor allem dann nicht, wenn sich diese beiden Personen möglicherweise niemals begegnen und keine direkten sozialen Interaktionen pflegen können. Stabilität und Kohärenz von modernen Gesellschaften muss also durch andere Methoden erzeugt und ermöglicht werden.

Dunbar liefert auch dafür einen Erklärungsansatz. Er schlussfolgert aus den vorhandenen Daten, dass die Entstehung von Sprache eine logische Konsequenz war, um das Problem der maximalen Gruppengröße in der menschlichen Spezies zu überbrücken. Alle Super-Gruppen wie z.B. Nationalstaaten bestehen aus vielen kleineren Zusammenschlüssen von Menschen, in der Soziologie als soziale Gruppe bezeichnet, die sehr selten größer als hundert Personen sind. Intensive soziale Bindungen sind laut einer Arbeit der Autoren Christian Buys und Kenneth Larsen aus dem Jahr 1979 sogar nur zwischen maximal 10 – 12 Individuen möglich. Übersteigt die Gruppengröße die kognitive Erfassungsfähigkeit der Individuen, müssen mit Hilfe von Sprache abstrakte Abgrenzungen wie z.B. Hierarchien, Stände oder Klassen geschaffen werden.

Sprache ermöglicht einerseits die Kategorisierung von Individuen in Typen bzw. Arten, wodurch diese als Gruppe zusammengefasst werden können und erlaubt andererseits Individuen mit den richtigen Verhaltensregeln gegenüber diesen Gruppen zu instruieren. Als Beispiel führt Dunbar optische Merkmale und bestimmte Kleidungsstile an, wie z.B. den Römerkragen von Priestern oder die Uniformen von Polizisten und Soldaten, durch welche signalisiert wird, wie der Einzelne mit Mitgliedern dieses Berufsstandes oder dieser Klasse umzugehen hat. Dadurch reduziert sich die kognitive Belastung des Individuums, da nun nicht mehr zu jedem einzelnen Mitglied einer bestimmten Gruppe soziale Bindungen eingegangen werden müssen, sondern allgemeine Verhaltensregeln auf eine spezifische Gruppe angewendet werden können. Dadurch sind hierarchisch strukturierte Gesellschaften von mehreren hunderttausend bis Millionen Individuen möglich.

Doch Dunbar weist mehrfach in seiner Arbeit daraufhin, dass auch Sprache kein perfektes Mittel ist, um die Stabilität und Kohärenz von Super-Gruppen zu gewährleisten. Je größer die Gruppe, desto loser werden die Bindungen und desto stärker wird die Gefahr, dass Super-Gruppen kollabieren. Als Nachweis beruft er sich hier auf den Untergang der meisten großen Imperien und Reiche im Verlauf der Geschichte, seien es nun das römische, persische oder mongolische Imperium oder aus der jüngeren Zeit, das British Empire.

Je größer eine Super-Gruppe wird, desto mehr Abstraktionsfähigkeit wird von den Individuen innerhalb der Super-Gruppe gefordert. Es ist naheliegend, dass auch hier das kognitive Maximum von 150 – 250, nun nicht mehr Individuen, sondern verschiedenen Kategorisierungen greift. Mit zunehmenden Wachstum der Super-Gruppe müssen mehr und mehr formelle Regeln wie Gesetze und soziale bzw. kulturelle Umgangsformen geschaffen werden um die Stabilität zu wahren. Liberale und autoritäre bzw. individualistische und kollektivistische Systeme schlagen für die Lösung dieses Problems unterschiedliche Wege ein: Da kollektivistische Ideologien die Super-Gruppe als Priorität betrachten und im Zweifel die Individualrechte des Einzelnen ignorieren und übergehen, wird die größer werdende Notwendigkeit von Stabilität  mit deutlichen und kompromisslosen Forderungen zur Disziplin sowie blindem Vertrauen gegenüber der Super-Gruppe selbst und ihren Zielen durchgesetzt.

Der Blick in die Geschichte zeigt, dass sich in kollektivistischen Systemen verschiedene autoritäre Konzepte zur Wahrung der Stabilität etablierten. Um den Einzelnen zum Verzicht seiner Individualrechte zugunsten des Kollektivs zu bewegen, wurde nicht selten die Existenz vermeintlicher Verwandtschaftsverhältnisse zwischen allen Gruppenmitgliedern heraufbeschworen. Mit der Berufung auf die angebliche Existenz einer gemeinsamen Familie und Abstammung konnte das Individuum bis hin zur völligen Selbstaufopferung getrieben werden, da die Bereitschaft einem Verwandten zu unterstützen ungemein größer ist als dies gegenüber einem nicht-verwandten Individuum der Fall wäre. Indem ein Trugbild des Kollektivs als eng miteinander-verwandte Gemeinschaft geschaffen wurde, war es einfach das Individuum mit den Gruppeninteressen in Einklang zu bringen und Querdenker oder Abweichler zu sanktionieren.

Formalisiert wurden diese Vorgehensweisen in den Ideen von z.B. Ehre und bedingungsloser Loyalität gegenüber der eigenen Nation. Begrifflichkeiten wie Vaterland oder im Englischen „Motherland“ bzw. „mother country“ zeugen noch immer von der Konstruktion des Kollektivs als Familienbund. Mit diesen Werkzeugen war es problemlos möglich, sozialen Druck auszuüben und z.B. durch die öffentliche Bloßstellung als Vaterlandsverräter den Einzelnen zu manipulieren und zu Handlungen zu zwingen, zu welchen er oder sie anderweitig nicht bereit gewesen wäre.

Ob in absolutistischen Systemen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, religiösem Fundamentalismus oder den kollektivistischen Staatssystemen der Moderne wie Kommunismus und Faschismus, die mit ihrem totalitären Anspruch das Wesen des Individuums selbst innerhalb der Super-Gruppe nach ihrem Wunsch formen wollten; in allen diesen Systemen finden wir die Konzepte von Ehre und Loyalität, häufig in ihren irrationalen und extremsten Ausprägungen. Durch Fehlverhalten oder Missachtung der Werte und Normen eines Systems verhält sich das Individuum schändlich – es begeht eine Ehrverletzung und bringt dadurch Schande über sich und das Kollektiv, wodurch sein Ansehen innerhalb der Gruppe und der gesamten Gruppe leidet.

Ehre als Werkzeug des sozialen Drucks wurde vor allem im Nationalsozialismus massiv durch die Idee der Rassenzugehörigkeit mit vermeintlichen Verwandtschaftsverhältnissen in Verbindung gebracht. „Ehre: Bestand und Bewahrung der eigenen Art, Eintreten und notfalls Sichopfern für die eigene Art und für deren höchste Werte. Gegensatz dazu: Ehrlosigkeit, Verfall, Preisgeben, Verrat, Befleckung der eigenen Art. Ehre kann es nur geben, wenn Bewußtsein der eigenen Art vorhanden ist; wer sich nicht – und sei es unbewusst, instinktiv – zu seiner eigenen Art bekennt, besitzt auch keine Ehre.“ Diese Definition konnte man in deutschen Lexika des Jahres 1937 lesen. Ziel war es das Individuum mit einer vermeintlichen Verwandtschaftsbeziehung – der sogenannten eigenen Art – an das Kollektiv und dessen Interessen zu binden. Der Einzelne wurde somit überzeugt – oder besser gesagt gezwungen – die kollektive Identität zum Teil seiner persönlichen Identität werden zu lassen oder seine persönliche Identität sogar gänzlich mit der kollektiven Identität zu ersetzen.

Moderne Gesellschaften, d.h. westliche liberale Demokratien, basieren zwar ebenfalls auf autoritären und hierarchischen Strukturen, verzichten jedoch weitestgehend auf den Bezug zu künstlich geschaffenen Familienbünden ihrer Bürger. Auch der Ehrbegriff wurde neu definiert und Ehrverletzungen beziehen sich nicht mehr auf die Gesamtgesellschaft, sondern betreffen nur noch die sogenannte “innere Ehre” des Einzelnen.

Liberale Gesellschaften erkennen an, egal ob bewusst oder unbewusst, dass das Individuum die kleinste und wichtigste Einheit innerhalb der Super-Gruppe ist und gemeinsame, positive Interaktionen zwischen diesen Individuen in erster Linie auf Basis von freiwilliger Kooperation und nicht auf Grundlage tatsächlicher oder erdachter Verwandtschaftsverhältnisse stattfinden. Sie erkennen außerdem an, dass sich Gruppeninteressen organisch aus der gemeinsamen Interaktion und Diskussion ergeben und diese nicht durch eine Führungselite vorgegeben werden müssen. Weiterhin sollen autoritäre Strukturen auf das Notwendigste reduziert werden und deren höchstes Ziel soll die Förderung der möglichst reibungslosen Kooperation zwischen allen Individuen der Super-Gruppe sein.

Die Grundlage dieser Kooperation stellt der sogenannte reziproke Altruismus dar. Dieser ist eine fundamentale Verhaltensweise des Menschen und vieler nicht-humaner Spezies, welche bereits lange vor der Existenz von Gesellschaften und Kulturen für die Entstehung von kooperativem Verhalten als Mittel zur Erhöhung der biologischen Fitness verantwortlich war. Um zu verstehen, wie reziproker Altruismus die Bildung liberaler Gesellschaften begünstigt und rechtfertigt, müssen wir nun einen kleinen Exkurs in die evolutionsbiologische Verhaltensforschung vornehmen.

[Reziproker Altruismus und liberale Gesellschaften]

Die Frage danach, wie sich Kooperationsverhalten in Lebewesen entwickeln konnte, blieb für lange Zeit ein ungelöstes Rätsel der biologischen Forschung. Doch nicht nur die regelmäßig beobachteten Fälle von Kooperation warfen Fragen auf: Menschen und Tiere zeigen häufig in verschiedenen Situationen ein scheinbar selbstloses, d.h. altruistisches Verhalten gegenüber ihren Artgenossen oder sogar nicht-verwandten Organismen. Da es Zeit- und Energiekosten verursacht, wenn ein Individuum einem anderen hilft, ohne dafür eine direkte und äquivalente Gegenleistung zu erhalten, gab es keine schlüssige Erklärung für die Entwicklung von altruistischem Verhalten. Im Jahr 1964 veröffentlichte William Hamilton seine Theorie der Verwandtenselektion, mit der es zumindest in Teilen möglich war das Vorkommen von Kooperationsverhalten in biologischen Organismen zu erklären. Die Grundannahme Hamiltons war es, dass, weil nah verwandte Individuen einen bestimmten Anteil derselben Gene gemein haben, es für ein Individuum vorteilhaft ist ein Familienmitglied ohne direkte Gegenleistung zu unterstützen. Selbstloses Verhalten kann in diesem Kontext die Chancen dafür erhöhen, dass das eigene Erbgut an die nachfolgende Generation weitergegeben wird. Die Bereitschaft mit der ein Individuum ein Familienmitglied selbstlos unterstützt, kann auf Grundlage des tatsächlichen Verwandtschaftsgrads berechnet werden. Diese nimmt mit zunehmend geringerem Verwandtschaftsverhältnis kontinuierlich ab.

Wie lässt sich jetzt jedoch kooperatives Verhalten ohne unmittelbare Gegenleistung in Organismen erklären, die keine nahen Verwandtschaftsverhältnisse aufweisen? Sieben Jahre nach Hamilton, im Jahr 1971, stellte Robert Trivers seine Theorie des reziproken Altruismus in der Wissenschaftswelt zur Diskussion. Trivers erläuterte seine Theorie anhand des sogenannten Gefangenendilemma:

Das Gefangenendilemma ist ein mathematisches Gedankenexperiment bei dem zwei Gefangene (oder allgemeiner: zwei Spieler) beschuldigt werden gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben. Beide Gefangene werden einzeln verhört und können keinen Kontakt zueinander aufnehmen. Es existieren folgende Möglichkeiten für die Gefangenen: Sie können die Tat entweder leugnen oder durch ein Geständnis den anderen verraten. Leugnen beide erhalten beide eine einjährige Haftstrafe. Gestehen und verraten die beiden den jeweils anderen, erhalten beide eine zweijährige Haftstrafe, aber nicht die Höchststrafe. Gesteht jedoch nur einer der beiden und verrät damit den anderen, so entgeht dieser jeglicher Strafe und wird als Kronzeuge freigesprochen, während der Verratene die Höchststrafe von 3 Jahren Haft erhält.

Das Dilemma der beiden Gefangenen besteht nun darin, dass sie sich dafür entscheiden müssen zu leugnen oder den anderen zu verraten, ohne dessen Entscheidung zu kennen.

Gefangener B Gefangener A
Leugnen Verraten
Leugnen 1 Jahr Haft | 1 Jahr Haft 0 Jahre Haft | 3 Jahre Haft
Verraten 0 Jahre Haft | 3 Jahre Haft 2 Jahre Haft | 2 Jahre Haft

Den größten Vorteil kann ein Gefangener erlangen, wenn er den anderen verrät. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass beide Gefangenen grundsätzlich sowohl rational als auch eigennützig handeln, dann werden beide zwangsläufig den jeweils anderen verraten. Dadurch erhalten beide eine 2-jährige Haftstrafe, länger also, als wenn beide die Tat geleugnet und damit kooperiert hätten. In einer einmalig stattfindenden Interaktion kann es zwar von Vorteil sein das Risiko einzugehen die Option des Betrugs zu wählen, in sich wiederholenden Gefangenendilemmas bildet sich jedoch immer die Kooperation als stärkste Strategie heraus, da sie das beste Ergebnis für beide Gefangenen erzeugt.

Übertragen wir die Regeln dieses Gedankenexperiments nun auf die reale Welt, dann lässt sich feststellen, dass Interaktionen zwischen Individuen häufig eine nicht endende Folge von Situationen darstellen, die dem Gefangenendilemma sehr ähnlich sind. Vor allem der Mensch ist dafür ein gutes Fallbeispiel: Frühmenschliche Lebensstile waren durch regelmäßige, direkte Interaktionen geprägt, in denen Individuen z.B. Waren und Dienstleistungen untereinander austauschten. Hierbei war es für die jeweiligen Parteien nicht sofort ersichtlich, wie sich das Gegenüber verhalten würde. Würde man sich an die getroffenen Absprachen halten oder bestand die Gefahr einem Betrüger gegenüberzustehen? Was wäre die beste Verhaltensweise? Kooperation oder das Gegenüber zuerst betrügen?

Selbst unter der Annahme, dass Individuen ausschließlich bewusst und rational handeln sowie nur den eigenen Vorteil im Blick haben, führt kooperatives Verhalten über den Verlauf sich wiederholender Interaktionen immer zu einem besseren Ergebnis, als durch den einmaligen Betrug gewonnen werden könnte. Dadurch entwickeln sich in sozialen Verbänden, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad, gegenseitige Vertrauensverhältnisse zwischen interagierenden Individuen. Diese können sich nicht nur überraschend schnell etablieren, sie weisen auch eine hohe langfristige Stabilität zwischen Geben und Nehmen auf. Kooperatives Verhalten erhöht somit die biologische Fitness von Individuen, was damit zu einer Selektion genau der Merkmale führt, die wiederum das Entstehen von weiteren, noch stabileren kooperativen Verhältnissen fördern.

Doch das Entstehen kooperativer Verhaltensweisen zwischen nicht-verwandten Individuen lässt sich nicht nur aus einer biologischen bzw. evolutionären Perspektive erklären. Christopher Stephens veröffentlichte im Jahr 1996 eine wissenschaftliche Arbeit über mathematische Modelle, mit denen die Theorie des reziproken Altruismus eindrücklich untermauert werden konnte. Als Beispiel führte er hierfür das kooperative Verhalten von Anubispavianen an, bei dem sich zwei Männchen verbünden, um gemeinsam gegen einen Rivalen und für ein Weibchen zu kämpfen. Nur der Anubispavian, der um Hilfe gebeten hat, paart sich im Anschluss mit dem Weibchen. Der Unterstützer geht leer aus, trägt aber trotzdem das Risiko des Kampfes. Stephens spricht hierbei von einer nicht-simultanen Kooperation bzw. einer verzögerten Kooperation. Das Verhalten des Unterstützers beruht darauf, dass er in einer zukünftigen Situation ebenfalls auf die Hilfe des anderen Anubispavian vertrauen kann.

Als weiteres Beispiel führt Stephens in seiner Arbeit Vampirfledermäuse an. Individuen dieser Spezies zeigen altruistisches Verhalten, in dem sie anderen Fledermäusen, die bei der Jagd nicht erfolgreich waren, Blut spenden. Sie erbrechen das zuvor getrunkene Blut ihrer Beute und versorgen damit andere, hungernde Fledermäuse, selbst wenn mit diesen kein Verwandtschaftsverhältnis besteht. Auch hier beruht das Verhalten auf einer erwarteten Gegenseitigkeit. In einer darauffolgenden Nacht können die Rollen von Geber und Nehmer tauschen.

In diesem Beispiel lässt sich noch eine weitere, evolutionär-entwickelte Verhaltensweise erkennen: In Laborexperimenten konnte gezeigt werden, dass die spendende Fledermaus ihr Verhalten einstellt, wenn die annehmende Fledermaus das altruistische Verhalten zu einem späteren Zeitpunkt nicht erwidert. Es entstand also nicht nur reziprok-altruistisches Verhalten auf evolutionärem Wege, sondern auch die Fähigkeit Betrüger zu erkennen. Betrüger zerstören das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen und Individuen, welche nicht in der Lage waren Betrug zu erkennen und sich stattdessen weiterhin selbstlos verhielten fielen zwangsläufig dem Selektionsdruck zum Opfer.

Können wir nun für die Existenz des reziproken Altruismus beim Menschen weitere Beispiele finden? Definitiv und das sogar noch deutlicher und vielfältiger als bei nicht-humanen Spezies. Als Beispiele finden sich das kooperative Verhalten gegenüber Familienmitgliedern, aber auch nicht-verwandten Individuen in Freundschaften und Partnerschaften. Oder der Zusammenschluss nicht-verwandter Individuen zu Gesellschaften, in denen diverse Arten und Formen der Arbeitsteilung betrieben werden. Außerdem zeigen menschliche Sozialverbände einzigartige und hochkomplexe Phänomene von Kooperation, welche vom gemeinsamen Aufbau eines Hauses bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen ganzen Nationen reichen, in denen sich unzählige, nicht-verwandte Individuen für das Erreichen gemeinsamer Ziele aufopfern.

Reziproker Altruismus ist also eine Verhaltensweise menschlicher und nichtmenschlicher Organismen, mit der sich auf Basis evolutionärer Prozesse und mathematischer Regeln erklären lässt, wie und warum sich sonst ausschließlich eigennützig handelnde Individuen gegenseitig unterstützen. Und das selbst wenn es für den Unterstützer bedeutet, zumindest kurzfristig den Verlust von Zeit-, Energie- oder Ressourcen in Kauf nehmen zu müssen, um dann zu einem späteren Zeitpunkt die Erträge seines scheinbar selbstlosen Verhaltens zu erhalten. Doch die Theorie des reziproken Altruismus bietet noch weitere Erklärungsansätze für Phänomene des sozialen Miteinanders.

Wie bereits im Beispiel der Vampirfledermäuse erwähnt, war es eine notwendige evolutionäre Parallelentwicklung, dass betrügerisches Verhalten in sozialen Interaktionen erkannt werden konnte. Schließlich hätte ein Individuum, welches sich regelmäßig ausnutzen lässt, nicht lange überleben können. Doch auch auf der Seite des Betrügers lassen sich interessante soziale Phänomene mit Hilfe des reziproken Altruismus erklären.

Die Autoren Timothy Ketelaar und Au Wing Tung konnten in einer ihrer Arbeiten aus dem Jahr 2003 zeigen, dass Probanden von einem Schuldempfinden berichten, nach dem sie selbst betrügerisch gehandelt hatten oder durch die Regeln des Experiments dazu gezwungen wurden einen anderen Probanden zu betrügen. Die Probanden nahmen an einem sogenannten Verhandlungsspiel teil, welches grundlegend den Regeln des Gefangenendilemma folgte. Als Folge des Schuldempfindens erhöhte sich jedoch gleichzeitig die Bereitschaft dieser Probanden im weiteren Spielverlauf mit anderen Spielern zu kooperieren. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Empfindung von Schuld, oder allgemein die Fähigkeit Empathie zu empfinden, einen parallel zum reziproken Altruismus entwickelten Mechanismus darstellt, welcher geschädigte persönliche Beziehungen wieder reparieren und das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen wiederherstellen soll.

Doch nicht nur Schuldempfinden, auch andere Emotionen treten in diesem Zusammenhang auf: Probanden, die an diesen oder ähnlichen Verhandlungsspielen teilnehmen und sich am anderen Ende des betrügerischen Akts befinden, berichten von Wut oder Zorn sowie dem Verlangen dem Betrügenden Schaden oder Kosten zuzufügen. Aus diesen Emotionen ergibt sich also der Wunsch nach Rache, welcher sich ebenfalls in vielen kulturellen Kontexten wiederfinden lässt. Das komplexe System aus Empathiefähigkeit, Wut- und Schuldgefühlen bildet also einen zusätzlichen Aspekt, welcher das Konzept des reziproken Altruismus unterstützt.

Die Theorie des reziproken Altruismus bietet somit Erklärungen dafür, warum wir uns schuldig fühlen, wenn wir ein anderes Individuum ausgenutzt haben und wieso wir wütend werden, wenn wir herausfinden, dass wir betrogen wurden. Dieses System ist damit außerdem eine mögliche Ursache dafür, warum verschiedene Formen von Betrug universell abgelehnte und geradezu verhasste Verhaltensweisen sind. Betrügerisches Verhalten war und ist in allen bekannten Kulturen negativ konnotiert, geht es hierbei nun um Ehebruch, Lügen, Opportunismus oder Verrat. Die Reaktion auf einmal erkanntes betrügerisches Verhalten ist in der Regel ad hoc, d.h. spontan und intuitiv – basiert also auf unseren Emotionen, die wiederum unser moralisches Grundempfinden bestimmen und beeinflussen.

Positive soziale Interaktionen durch Kooperation, das organische Entstehen von Gruppeninteressen und die Grundlage für moralisches Handeln – das alles sind intrinsische Eigenschaften, die durch jahrtausendelange evolutionäre Prozesse zum Teil der Conditio humana – also der Natur des Menschen – geworden sind. Keine dieser Eigenschaften wird erst durch Kultur, Gesellschaft oder kollektive Identität zum Teil der persönlichen Identität des Individuums. Nein, ganz im Gegenteil. Diese intrinsischen Eigenschaften bilden den Grundstein, auf dem sich Kultur, Gesellschaft und kollektive Identität erheben können. Mit allen ihren positiven und negativen Effekten.

[Identitätspolitik als Gefahr für westliche Werte und liberale Gesellschaften]

Schlagen wir nun wieder den Bogen zu unseren Ausgangsfragen: Gibt es Hinweise auf biologische bzw. evolutionäre Grundlagen von kollektiver Identität? Ja, zumindest dann, wenn es sich um Kleingruppen von Menschen bis zu maximal 250 Einzelpersonen handelt. Alles darüber hinaus lässt sich aufgrund irrelevant werdender Verwandtschaftsverhältnisse und den Folgen der Dunbar-Zahl nicht auf biologischer Grundlage rechtfertigen. Alle Bestrebungen zu kollektiver Identität über dieses Limit hinaus müssen durch Sprache geschaffen und damit durch soziale Normen konstruiert werden. Kollektive Identität wie wir sie heute in Form von Identitätspolitik beobachten können ist somit, im Gegensatz zu persönlicher Identität, eine rein soziale Konstruktion und kann folglich auf Basis völlig beliebiger Merkmale und Kriterien erschaffen und geformt werden. Eine Begründung von kollektiver Identität kann sich also nicht auf Tradition, Geschichte oder Verwandtschaft bzw. Abstammung berufen, sondern muss explizit darlegen, warum die gewählten Merkmale und Kriterien eine Grundlage für die kollektive Identität bilden und diese rechtfertigen.

Soziale Konstruktion allein widerlegt jedoch nicht die Sinnhaftigkeit und den möglichen Nutzen einer kollektiven Identität. Lassen sich also Gründe dafür finden, warum ein autoritäres und kollektivistisches System einem liberalen und individualistischen System vorzuziehen wäre?

Liberale Gesellschaften stützen sich auf die eigenständige, individuelle Interaktion ihrer Bürger. Diese Systeme beruhen auf der Annahme, dass durch den Fokus auf das Individuum und dessen Freiheiten und Rechte die maximale Menge an Vorteilen und das größtmögliche Wohlergehen aller Mitglieder der Gesellschaft erreicht werden kann. Dass ein liberales System funktionieren und die genannten Ziele erfüllen kann, lässt sich mit der Existenz des reziproken Altruismus erklären und begründen.

In diesem Zusammenhang muss jedoch erwähnt werden, dass auch der reziproke Altruismus kein perfektes System darstellt. 1. Verwandtenbevorzugung findet auch unter der Annahme statt, dass Individuen auf reziprok-altruistischer Basis interagieren. 2. Das Kooperationsverhalten ist nie wirklich altruistisch, sondern beruht auf der Erwartung von Gegenseitigkeit. 3. Betrug kann eine lohnenswerte Option sein, wenn es sich um einmalige Interaktionen handelt und wenn der Betrügende glaubt unbeobachtet zu sein bzw. ungeschoren davonkommen zu können.

Labor-Experimente, wie in der Studie “Evidence for strategic cooperation in humans” von Maxwell Burton-Chellew und Kollegen aus dem Jahr 2017, zeigen, dass kooperatives, strategisches Verhalten im Menschen zwar sehr deutlich ausgeprägt ist, aber vor allem durch die Wahrnehmung durch andere Individuen beeinflusst wird. Die in der Studie untersuchten Probanden nahmen an einem Spiel teil, in dem sie zu Beginn eine bestimmte Menge an Geld erhielten und dieses entweder für sich behalten oder in ein öffentliches Konto einzahlen konnten. Am Ende der Runde wurde das Geld im öffentlichen Konto vervielfacht und dann zu gleichen Anteilen an alle Teilnehmer ausgezahlt. Spieler konnten also entweder kooperieren, indem sie ihr Geld in das öffentliche Konto einzahlten und somit den Gewinn für alle anderen Spieler, also zum Wohl aller, erhöhten. Oder sie konnten die anderen Mitspieler betrügen, indem sie eigennützig handelten, nichts einzahlten und dann trotzdem am Ende Geld aus dem öffentlichen Konto erhielten.

Glaubten die Probanden, dass ihre Entscheidung für die anderen Spieler unsichtbar bleiben würde, machten sie häufiger von der Möglichkeit Gebrauch das Geld einzubehalten. Wurde den Probanden jedoch gesagt, dass ihre Entscheidung für die anderen Spieler sichtbar sein würde, verdreifachte sich ihre Kooperationsbereitschaft und sie zahlten entsprechend häufiger in das öffentliche Konto ein.

Liberale Gesellschaften müssen sich dieser Realität stellen und diese mit Hilfe autoritärer und hierarchischer Strukturen kompensieren. Auch die liberalste Gesellschaft braucht Regeln und Gesetze, staatliche Institutionen und ein Justizsystem zur Schlichtung von Konflikten. Die positive und gegenseitige Kooperation zwischen den Individuen soll gefördert und so reibungslos wie möglich gestaltet werden. Höchste Priorität hat hierbei aber immer das Sparsamkeitsgebot und die Notwendigkeit von autoritären Strukturen muss kontinuierlich ausdiskutiert und ausreichend begründet werden.

Kollektivistische Systeme beruhen hingegen auf der Annahme, dass das Erreichen der festgelegten Gruppeninteressen mit dem maximalen Wohlergehen jedes einzelnen Individuums gleichzusetzen ist. Diese Gesellschaften verfolgen somit kein Sparsamkeitsgebot, da ein Mehr an autoritären Strukturen und Hierarchien positiv für die festgelegten Gruppeninteressen ist. Gesetze und Regeln sollen die Freiheiten des Individuums bis ins kleinste Detail festlegen bzw. einschränken, insofern es für das Kollektiv von Vorteil ist. In diesen Gemeinschaften müssen Individualrechte kontinuierlich ausdiskutiert und hinreichend begründet werden, wobei für die Debatte darüber häufig nur ein kleiner Teil des Kollektivs verantwortlich ist. Zur Einhaltung der Ordnung und als Mittel gegen Abweichler wird eine kollektive Identität geschaffen und forciert, bis diese Teil der persönlichen Identität jedes Individuums wird. Kollektivistische Systeme und die jeweils eingesetzte kollektive Identität bergen somit ein hohes Risiko des Machtmissbrauchs und der willentlichen Manipulation aller Individuen.

Um zu demonstrieren wie Machtmissbrauch und Manipulation aus kollektiver Identität und kollektivem Gedankengut entstehen können, muss nicht einmal in die Schreckenskiste der Vergangenheit gegriffen werden. Aktuelle identitätspolitische Bestrebungen in vielen westlichen, liberalen Gesellschaften haben zur Fragmentierung der Bevölkerung in politische Gruppen auf Basis von demographischen Merkmalen geführt. Nicht Ideen und durch Diskurs geschaffene gemeinsame Ziele und Interessen sind die treibende Kraft hinter diesen Kollektiven; nein, die Hautfarbe, die Herkunft oder das Geschlecht einer Person bestimmen das politische Handeln.

Nicht nur, dass die Abgrenzung durch demographische Merkmale die Möglichkeit einer Kompromissfindung zwischen diesen Kollektiven unmöglich macht; politische Argumente sind zu einem Verweis auf die Zugehörigkeit des Gegenübers zu einer bestimmten Gruppe bzw. einer bestimmten kollektiven Identität verkommen.
Gleichzeitig wird die eigene Gruppenzugehörigkeit als Scheinargument verwendet, um andere von den eigenen politischen Zielen zu überzeugen. Innerhalb dieser durch Identitätspolitik geschaffenen Gruppen zählt nicht mehr der unabhängige Gedanke und die Interessen des Individuums, sondern die persönlichen Interessen von einer kleinen, überschaubaren Führungsriege oder eines einzelnen Vordenkers. Der oder die Chefideologen bestimmen die Marschrichtung, der restliche Teil der Gruppe besteht aus Mitgliedern und Mitläufern, die sich durch sozialen Druck und Konformitätswunsch der vorgegebenen Gruppenmeinung anpassen. Kollektivismus und kollektive Identität sind somit die Brutkammer tribalistischen Denkens und der geist- und gedankenlosen Verfolgung ideologischer Dogmen.

Identitätspolitik führt zur fortschreitenden Balkanisierung unserer Gesellschaften, zur Milieubildung auf Basis kollektiver Identität. Identitätspolitik fördert somit nicht die Kohärenz einer Gesellschaft, sondern erzeugt eine Vielzahl an Gruppen zwischen denen keinerlei Diskurs oder sogar Kompromiss möglich ist. Sie führt zur maximalen Zersplitterung in kollektive Identitäten, der absoluten Abgrenzung des Eigenen zum Anderen und zerstört damit ein funktionierendes politisches und gesellschaftliches Miteinander.

Die Frage danach, ob sich Gründe dafür finden lassen, warum ein kollektivistisches System einem individualistischen System vorzuziehen wäre, lässt sich also mit einem klaren Nein beantworten.

[Zusammenfassung]

Die intellektuelle Unredlichkeit und fehlende Selbstreflexion derjenigen, die ein Argument sinngemäß mit “Ich als schwarze Frau…” oder “Ich als patriotischer Europäer…” einleiten, ist im besten Falle so belustigend wie die zahlreichen Parodien von auf die Spitze getriebener identitätspolitischer Handlungen. Abseits der offensichtlichen Extreme wäre es jedoch durchaus ein legitimer Einwurf die Frage zu stellen, ob wir denn nicht einfach nur die schlechte und destruktive Identitätspolitik der SJWs, selbsternannten Verteidiger des Abendlandes, islamistischer Fundamentalisten und der Black oder White Supremacists abwerfen sollten, gleichzeitig aber die vermeintlich positiven, gesellschaftsförderlichen Formen der Identitätspolitik und kollektiver Identität beibehalten sollten. Schließlich sind wir Menschen im Kern ja dennoch tribalistisch-denkende Wesen und politische Handlungen lassen sich nur über kollektive Vorgehensweisen realistisch umsetzen.

Die identitätspolitischen Bestrebungen der letzten Jahre schlagen in genau diese Kerbe. Deren politischen Forderungen, wie z.B. die der Identitären Bewegung, lesen sich unter anderem wie folgt: Die Verteidigung des Eigenen, das Bekennen zu seiner eigenen Kultur und Tradition, der Erhalt der eigenen ethnokulturellen Identität. Unabhängig davon, dass Begrifflichkeiten wie Kultur, Tradition und ethnokulturelle Identität nicht definiert werden – und vermutlich auch niemals wirklich trennscharf definiert werden könnten – Abgrenzung auf Basis willkürlich festgelegter Merkmale ist auch hier das Mantra, begründet allein durch Geschichte und Herkunft. Eine unzureichende Begründung, die so nicht akzeptiert werden kann. Geschichte, Herkunft oder Abstammung rechtfertigen nicht die Existenz einer kollektiven Identität, die einer Super-Gruppe – in dem Fall allen Deutschen oder allen Europäern – innewohnen soll.

Doch können diese politischen und gesellschaftlichen Forderungen überhaupt weiter begründet werden, abseits von Gefühlen und persönlichen Wunschdenken? Inwiefern ließen sich außerdem die autoritären Maßnahmen rechtfertigen, die für die Durchsetzung dieser Forderungen zwangsläufig notwendig wären? Das Risiko der Verletzung von Individualrechten, der mögliche Machtmissbrauch, die Manipulation des Einzelnen durch sozialen Druck, Gruppenzwang und Konformitätsdenken – die Probleme kollektivistischer Ansätze treten auch hier hervor, da sie dem Kollektivismus als System selbst zugrundeliegen.

Die Frage sollte darum anders gestellt werden: Müssen wir die Risiken kollektivistischer Lösungsansätze eingehen, weil nur diese die Probleme unserer Zeit lösen können? Zur Beantwortung dieser Frage genügt erneut der Verweis auf die Grundprinzipien liberaler Gesellschaften: Die Entstehung von gemeinsamen Interessen und Zielen durch Kooperation und einen offenen Diskurs benötigt keine kollektive Identität; die intrinsischen Eigenschaften des Menschen – aller Menschen – evolutionär geformt durch reziprok-altruistische Mechanismen, reichen dafür vollkommen aus. Vergleichbares gilt für das Sparsamkeitsgebot in Bezug auf autoritäre Strukturen und Hierarchien. Die Begrenzung von formellen und informellen Regeln auf das absolut notwendige fördert den reibungslosen Ablauf politischer Prozesse und gesellschaftlicher Interaktion. Individualrechte garantieren nicht nur die Freiheiten des Einzelnen, sondern verpflichten gleichzeitig zur Wahrung dieser Rechte für jedes Individuum innerhalb der Gemeinschaft. Betrügerisches Verhalten, welches die Grundprinzipien der Kooperation verletzt kann ohne Weiteres erkannt und durch die notwendigen Institutionen sanktioniert werden.

Alle politischen und gesellschaftlichen Probleme mit denen westliche Gesellschaften aktuell konfrontiert werden, lassen sich also ohne die Etablierung einer althergebrachten oder neu erfundenen kollektiven Identität lösen. Keines der Risiken, die kollektivistische Ansätze mit sich führen muss somit eingegangen werden und keine der politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften westlicher, liberaler Demokratien muss aufgrund falsch verstandener Ängste abgeworfen werden. Der Ruf nach Sicherheit ist ein mächtiger Ruf voller Überzeugungskraft und die Grenzziehung in das Eigene und das Andere scheint für viele Menschen verlockend, weil es eine simple Problemlösung verspricht. Doch Sicherheit nach außen ist kein Gewinn, wenn es ein Zerwürfnis nach innen bedeutet.

Identitätspolitik führt, entgegen ihrer Versprechungen, weder zur erhofften Lösung der Identitätskrisen noch zur Beantwortung dringender Sicherheitsfragen. Stattdessen bereitet sie den Weg in ein Sektierertum, geleitet von realitätsfernen Dogmen und führt damit zur irreparablen Beschädigung unserer Gesellschaften. Die Zukunft in der ich leben möchte ist deshalb individualistisch und kein Kollektiv, liberal und nicht autoritär, reich an denkerischer Vielfalt und arm an homogenen Identitäten. Sie ist linksliberal.

Quellen:

https://www.politicalcompass.org/

http://www.kaad.de/wp-content/uploads/2016/06/Impulsvortrag_Werz_JAK_2016.pdf

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► Moral behavior in animals | Frans de Waal – https://youtu.be/GcJxRqTs5nk

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http://greatergood.berkeley.edu/images/uploads/Trivers-EvolutionReciprocalAltruism.pdf

https://de.wikipedia.org/wiki/Gefangenendilemma

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► Vampire bat food sharing (explained by David Attenborough) https://youtu.be/rZTAW0vPE1o

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http://www.psy.miami.edu/faculty/mmccullough/Papers/Rev_For_BBS.pdf

https://de.wikipedia.org/wiki/Conditio_humana

► I’M A LEMON – https://youtu.be/yK1JRtoBY3Y

http://rspb.royalsocietypublishing.org/content/284/1856/20170689

https://de.wikipedia.org/wiki/Public_Goods_Game

http://stephaniemcmillan.org/comic/identity-politics-competition/

► Josh – YOU’RE A WHITE MALE https://youtu.be/ilCmywMin8I

► HuffPost – Why We Need To Talk About White Feminism https://youtu.be/VNdZcegK1lQ

► Presse2013 – Frauen als Macho-Opfer? (log in) https://youtu.be/Onjgd3KKVBs

► SUBJECT POLITICS – Hillary Clinton plays „woman card“ 13 times in a minute https://youtu.be/xlDqptoRR28

https://www.identitaere-bewegung.de/category/politische-forderungen/

https://www.ratioblog.de/entry/fehlschluss-18-argument-des-althergebrachten-traditionsargument

Offener Brief an ARD, ZDF und FUNK

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich schreibe diesen Brief bezüglich des Programms von „Jäger & Sammler“, einen durch FUNK finanziell geförderten Youtube-Kanal mit etwa 3500 Abonnenten. In 9 der 49 bisher durch den Kanal veröffentlichten Videos ist die Youtuberin Suzie Grime zu sehen – eine Person, die meiner Meinung nach keine Gelder aus dem Rundfunkbeitrag erhalten sollte, da sie auf eine unprofessionelle Art und Weise nachweislich falsche und radikal-ideologisch motivierte Inhalte vor ein jugendliches Publikum trägt. Laut der FUNK Website ist das angestrebte Zielpublikum zwischen 14 und 29 Jahren alt und folglich zum Teil noch minderjährig. Suzie Grime, gegen welche bereits mehrfach wegen Drogenkonsum – unter anderem öffentlich sichtbar auf Youtube – ermittelt wurde und die davon berichtet, wie toll die Einnahme von Ritalin doch sei, ist unter keinen Umständen ein geeignetes Vorbild für das junge Publikum, welches FUNK mit seinen Beiträgen erreichen möchte.

Sie bezeichnet sich selbst als Feministin – also als Person, die sich für eine Gleichberechtigung aller Menschen einsetzt – verunglimpft jedoch First Lady Melania Trump aufgrund ihrer zum Teil freizügigen Vergangenheit, hetzt gegen heterosexuelle Männer und weiße Menschen, blockiert und verbannt selbst sachliche Kritiker in kürzester Zeit, um einem konstruktiven Diskurs aus dem Weg zu gehen, behauptet, dass ihre Kritiker sie nur aufgrund ihrer „linken Einstellung“ verachten würden und wirbt vor ihrem jungen Publikum unkritisch und unreflektiert für Schönheitsoperationen.

An dieser Stelle habe ich für Sie einige weitere Aussagen von Suzie Grime zusammengestellt, damit Sie sich auch selbst ein Bild davon machen können, wer dort im Namen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, in Zusammenarbeit mit „Jäger & Sammler“, Geld aus dem Rundfunkbeitrag erhalten hat und auch weiterhin erhält. Die folgenden Inhalte sind in keiner Weise bearbeitet.

http://archive.is/4qG2t 

http://archive.is/RKvDq 

Sie scheint sich ihrer Unbeliebtheit bei allen, welche ihr Weltbild nicht bedingungslos teilen, durchaus bewusst zu sein und nutzt die Kollaboration mit FUNK, um sich selbst zu überhöhen und um sich über ihre Kritiker lustig zu machen.

http://archive.is/9vwij 

Diese Aussage ist auch der hauptsächliche Grund, weshalb ich mich entschieden habe Sie bezüglich dieser Sache zu kontaktieren. Auch wenn sämtliche Auftritte von Suzie Grime bei „Jäger & Sammler“ bestenfalls als problematisch zu bezeichnen sind, werde ich mich auf das aktuellste Video zum Thema „Gender Pay Gap“ beschränken:

Das Video öffnet mit einer Aufnahme von Suzie Grime, die in einer mit Requisitengeldscheinen gefüllten Badewanne sitzt. Sie erklärt, dass die männlichen Zuschauer mit großer Wahrscheinlichkeit mehr Geld für ihre Arbeit bekommen als sie. Suzie Grime führt diese Behauptung weiter aus und sagt, dass Frauen im Durchschnitt 21% weniger Geld verdienen als Männer und daher „bis zum 18. März umsonst arbeiten“ würden.

Ganz abgesehen von der moralischen und gesellschaftspolitischen Fragwürdigkeit dieser Aussagen, mit denen potenziell neue Neiddebatten und Feindseligkeiten zwischen den Geschlechtern provoziert werden können, wird hier eine Verdrehung der Tatsachen vorgenommen: Frauen *verdienen* nicht 21% weniger Geld als Männer; Frauen *erhalten im statistischen Mittel* 21% weniger Geld als Männer. Was jedoch nicht daran liegt, dass Frauen eine Form von Diskriminierung durch ihren Arbeitgeber oder die Gesellschaft insgesamt erfahren würden, wie die Verwendung des Wortes „verdienen“ suggeriert. Da für die Erhebung des unbereinigten Gender Pay Gaps ausschließlich die durchschnittlichen Brutto-Stundenlöhne von Frauen und Männern miteinander verglichen werden, lässt sich daraus in keiner Weise ableiten, bis zu welchem Tag im Jahr alle Frauen vermeintlich „umsonst arbeiten“ müssten. Der irreführende Charakter des unbereinigten Gender Pay Gaps wurde bereits in zahlreichen Publikationen demonstriert, so z.B. in der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder dem Online-Magazin Telepolis. Die unkritische Verwendung der 21%-Zahl und somit des unbereinigten Gender Pay Gaps bedeutet, dass Suzie Grime und der Youtube-Kanal „Jäger & Sammler“ willentlich in Kauf nehmen, anhand von Halbwahrheiten und Fehlinformationen, ihrem jungen Publikum ein falsches Bild der gesellschaftlichen Situation zu präsentieren.

Im einem kurz darauf folgenden Clip unterhält sich Suzie Grime mit einigen Möbelpackern über den Gender Pay Gap. Welchem Zweck diese Szenen dienen sollen wird nicht klar: Die gezeigten Männer besitzen offenkundig keine Fachkenntnis zu dieser Thematik und können daher nur nickend beipflichten, ohne dass ein konstruktives Gespräch zustande kommt. Besonders zynisch an dieser Situation: Suzie Grimes Gucci Handtasche, welche kurz zuvor im Video sekundenlang deutlich zu sehen ist, überschreitet das verfügbare monatliche Einkommen eines Möbelpackers mit hoher Wahrscheinlichkeit um mehrere Größenordnungen.

In den folgenden Minuten schlägt das Video eine andere Tonart an. Suzie Grime verweist auf das Institut der deutschen Wirtschaft Köln, in dessen Studie der Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen mit Hilfe wissenschaftlicher Methodik analysiert wurde. Die Forscher des IWKöln gelangten, nach Berücksichtigung verschiedener Faktoren, wie Häufigkeit von Teilzeitbeschäftigungen, Bildungsstand, Dauer der Betriebszugehörigkeit, geringerer Tendenz in Führungspositionen zu arbeiten usw., zu dem Ergebnis, dass der *bereinigte* Gender Pay Gap unter 2% fällt. Als Reaktion auf diese wissenschaftlichen Ergebnisse entfahren Suzie Grime mehrfach schnippische und abweisende Kommentare – vermutlich, da diese Ergebnisse den Kernaussagen ihres Videos widersprechen. Schließlich deutet bereits das von ihr in dieser Szene getragene T-Shirt, mit eindeutig politischer Botschaft, daraufhin, dass journalistische Neutralität kein Kriterium bei der Erstellung dieses Beitrags von Jäger & Sammler gewesen sein kann.

Es folgt ein Interviewausschnitt zwischen Suzie Grime und Dr. Jörg Schmidt, einem promovierten Ökonomen des Deutschen Institutes für Wirtschaft Köln, in welchem dieser erläutert, dass viele Frauen ihre Karriere zugunsten der Familienplanung aus eigener Entscheidung heraus in den Hintergrund stellen und Einkommensunterschiede demnach nicht auf Diskriminierung zurückzuführen sind. Ein Widerspruch oder weitere Nachfragen vonseiten Suzie Grimes gibt es nicht. Stattdessen werden den Aussagen von Dr. Jörg Schmidt nun Behauptungen von Frau Henrike von Platen, einer „Equal Pay Expertin“, gegenübergestellt. Inwiefern die von Frau von Platen vorgebrachten Punkte nachweislich korrekt sind und auf welche Quellen sie sich dabei bezieht, wird im Video nicht verraten. Somit werden die Aussagen eines Ökonomen, getätigt auf Basis wissenschaftlicher Erhebungen, mit der Meinung einer „Equal Pay Expertin“ verglichen und auf eine argumentative Stufe gestellt. Für das junge, vermutlich naive Publikum ist es unmöglich die beiden vorgebrachten Positionen, in Bezug auf deren Validität, angemessen zu beurteilen.

In der anschließenden Szene versucht Suzie Grime dann, die Aussagen des IWKöln auf die bereits bekannte Art und Weise zu entkräften: Frauen würden es sich eben nicht aussuchen in Teilzeit zu arbeiten, da Aufgaben im Haushalt oder Kindererziehung „laut Statistiken an ihnen hängen bleiben“ – ohne das diese behauptete Kausalität mit der Angabe entsprechender Quellen belegt wird. Während Suzie Grime diese Behauptungen von sich gibt, wirft sie verachtende Blicke auf eine von ihr getragene Babypuppe – möglicherweise um zu implizieren, dass Kinder für Frauen lediglich eine unerwünschte Belastung seien. Ob diese Perspektive von Müttern und Frauen mit Kinderwunsch geteilt wird und ob das mit der Verantwortung und Vermittlung sozialer sowie gesellschaftlicher Werte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Einklang steht, wage ich zu bezweifeln.

Des Weiteren merkt Suzie Grime an, dass „typische Männerberufe“ besser bezahlt werden würden als „typische Frauenberufe“, ohne dabei ein Wort darüber zu verlieren, dass Deutschland ein Land ist, welches eine freie Berufswahl unabhängig vom Geschlecht ermöglicht und garantiert. Dass jedoch genau diese Tatsache dazu führt, dass Frauen häufiger Karrierewege wählen, welche als „feminin“ angesehen werden – diese Entscheidung also auf individuellen Interessen begründet ist – und dass dieses Phänomen bereits intensiv dokumentiert worden ist (vgl. „Hjernevask – Das Gleichstellungsparadox“, Dokumentationsserie des norwegischen Soziologen Harald Eia, 2011) wird nicht erwähnt.

Im weiteren Verlauf des Videos präsentiert Suzie Grime zwei ihr zugesandte Beispiele, in welchen Frauen von Sexismus und Diskriminierung am Arbeitsplatz berichten. Ob die berichteten Ereignisse jedoch genauso vorgefallen sind, wird in keiner Weise bestätigt und daher können diese Aufnahmen bestenfalls als anekdotische Evidenz betrachtet werden. Kurz erwähnt werden ebenfalls – erneut ohne Angabe von Quellen – „Studien“ zur Existenz einer gläsernen Decke beim Karriereaufstieg, allerdings ohne weitere Erläuterung.

Abschließend wird ein Clip eines polnischen Parlamentariers, welcher eindeutig frauenfeindliche Aussagen von sich gibt, gezeigt. Was dies jedoch mit dem Gender Pay Gap in Deutschland zu tun haben soll, bleibt unklar. Es lässt sich nur darüber spekulieren, ob damit die menschenfeindlichen Äußerungen einer Einzelperson als vermeintlicher Beleg für eine scheinbar weite Verbreitung dieses Gedankenguts angeführt werden sollen. Jedoch unabhängig davon, ob das tatsächlich der Intention von Suzie Grime und „Jäger & Sammler“ entspricht, so nimmt die argumentative Vorgehensweise der Verantwortlichen in der Gesamtheit dieses Videos schockierende Ausmaße an.

Weder die inhaltliche Umsetzung, noch die Art der Präsentation sind dem Niveau öffentlich-rechtlicher Produktionen angemessen und verletzen auf grobe Weise die Kriterien des staatlichen Kultur- und Bildungsauftrags. Es scheint so, als wäre es das selbsterklärte Ziel von Suzie Grime und dem Youtube-Kanal „Jäger & Sammler“ eine eindimensionale, plakative und populistische Botschaft an ein junges Publikum vermitteln zu wollen, in der Frauen kollektiv als Opfer gesamtgesellschaftlicher Unterdrückung und Marginalisierung dargestellt werden, während das Kollektiv „Männer“ als vermeintlicher Nutznießer struktureller Vorteile und gesellschaftlicher Privilegien stilisiert wird. Durch das Schaffen eines solchen Schwarz-Weiß-Denkens wird die Fähigkeit der differenzierten Problembetrachtungen und –analysen gehemmt, während das Denken in Stereotypen, die Besinnung auf Vorurteile und die Suche nach einem Feindbild aktiv gefördert werden.

Als Zahler des Rundfunkbeitrages finde ich es absolut inakzeptabel, dass solch ein manipulatives und für den gesellschaftlichen Diskurs brandgefährliches Format mit meinem Geld finanziert wird. Ich bitte Sie daher inständig, die von mir in diesem Brief aufgeführte Kritik anzunehmen und noch einmal gründlich zu überdenken, ob die Arbeit von Suzie Grime und dem Youtube-Kanal „Jäger & Sammler“ tatsächlich mit dem Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Einklang steht und ob daher eine finanzielle Förderung weiterhin gerechtfertigt ist.

Mit freundlichen Grüßen

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zuschauerredaktion@zdf.de
info@funk.net
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Update:

FUNK hat inzwischen auf den offenen Brief geantwortet:

Sehr geehrter Doktorant,

vielen Dank für Ihr Interesse an „Jäger & Sammler“.
Unser Angebot wendet sich an 20- bis 25-Jährige. Es ist uns daher wichtig, Themen aufzugreifen, die die Lebenswelt unserer Zielgruppe berühren und es ist uns wichtig, mit Moderatoren zu arbeiten, die unsere Zielgruppe ansprechen.

Suzie Grime ist eine junge, meinungsstarke Frau. Genau aus diesem Grund haben wir sie als Host ausgewählt. Suzie setzt sich öffentlich und auf ihrem privaten YouTube-Kanal für Feminismus – die Gleichberechtigung von Mann und Frau – ein. Wie Sie dadurch zu dem Schluss kommen, dass Suzie „gegen heterosexuelle Männer und weiße Menschen” hetzt, können wir nicht nachvollziehen.
Wir verbreiten in unseren Beiträgen keine „Halbwahrheiten und Fehlinformationen” – hinter Suzie Grime steht eine Redaktion, die die Themen erarbeitet und ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nachgeht.

Neben ihrer Tätigkeit für „Jäger & Sammler” veröffentlicht Suzie Beiträge auf ihrem privaten YouTube-Kanal. Dies hat keinerlei Anbindung zu unserem Format „Jäger & Sammler”; ihre privaten Inhalte verantworten wir nicht.

Mit freundlichen Grüßen

Inwiefern dieses Antwortschreiben nun die Kritikpunkte des offenen Briefs aufgreifen soll und ob sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten einen Gefallen damit getan haben, eine solche Massen-Email an alle Verbreiter des offenen Briefs herauszuschicken, sei einmal dahingestellt. Ich habe meine Perspektive auf diese Reaktion in einer entsprechenden Antwort-Email dargelegt:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ihre Antwort hat mich sehr enttäuscht. Offensichtlich haben Sie die im offenen Brief vorgebrachten Punkte nicht gelesen oder Sie weigern sich zur angeführten Kritik Stellung zu beziehen. In diesem Brief wird in ausführlicher Weise argumentativ dargelegt, warum die zu Beginn getroffenen Einschätzungen von Suzie Grimes Arbeit und dem Kanal „Jäger & Sammler“ angemessen sind und an welchen Stellen im besprochenen Videobeitrag Halbwahrheiten und Fehlinformationen präsentiert werden. Ich hätte zumindest eine oberflächliche Auseinandersetzung und die Adressierung einzelner Kritikpunkte erwartet. Der Umstand, dass Sie hier eine Massen-Email versendet haben, wie die Rückmeldungen vieler Nutzer auf der Plattform Twitter dokumentieren, verdeutlicht jedoch, wie wenig Sie sich offenbar Ihrer Position innerhalb der öffentlich-rechtlichen Medien und der impliziten Verantwortung dem Rundfunkbeitragszahler gegenüber bewusst sind. Ihre Antwort ist ein gleichgültiger und despektierlicher Beitrag zur Debattenkultur in Deutschland und wird nicht nur mein Vertrauen in den öffentlichen Rundfunk und dessen Verantwortlichen, sondern auch das Vertrauen vieler Unterstützer des offenen Briefes, nachhaltig beschädigen.

Mit freundlichen Grüßen
Der Doktorant

#PewDieGate, Antifa und alternative Fakten [Dokto-RANT #4]

Im Angesicht des aktuellen Dramas, rund um den Youtuber PewDiePie und dem Vorwurf des Antisemitismus gegen ihn, habe ich mich mal wieder vor mein Mikrofon gesetzt und meine Gedanken dazu aufgezeichnet. Herausgekommen sind ca. 42 Minuten, in denen ich, neben dem Kampf zwischen klassischen und neuen Medien, auch die Frage nach der Wertigkeit von emotionalen und faktenbasierten Argumentationen erörtere. Viel Spaß!

Auf eine Quote mit Moritz Neumeier

Seit ungefähr einem Jahr ist das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst in Kraft und es ist Zeit eine Bestandsaufnahme zu machen. Wie praktisch, dass sich vor einigen Wochen der Youtuber Moritz Neumeier mit genau diesem Thema beschäftigt hat und ich mir daher nun seine vorgebrachten Argumente für eine Frauenquote etwas genauer anschauen konnte. Viel Spaß!

Willkommen im postfaktischen Zeitalter

Die Begriffe „postfaktisch“ und „Fake News“ geistern ja nun bereits seit einiger Zeit durch den globalen Äther des Internets. Höchste Zeit also, sich diesen beiden Begrifflichkeiten mit einer kritischen Analyse zu nähern und zu klären, was denn überhaupt damit gemeint ist, wenn in Politik und Medien von „Fake News“ und einem postfaktischen Zeitalter gesprochen wird. Viel Spaß!

Vollständige Quellenangaben (chronologisch):

Willkommen in der postfaktischen Welt ► http://cicero.de/salon/politik-und-wahrheit-willkommen-in-der-postfaktischen-welt

Erklärt: Was Fake-News in Deutschland anrichten können ► http://www.bento.de/today/fake-news-was-ist-das-und-wie-koennten-sie-den-wahlkampf-in-deutschland-beeinflussen-1058758/

Angela Merkel und das postfaktische Zeitalter ► http://www.rp-online.de/politik/deutschland/angela-merkel-und-das-postfaktische-zeitalter-die-kanzlerin-und-die-macht-des-wortes-aid-1.6283541

„Soziale Medien machen Welt nicht demokratischer“ ► https://futurezone.at/netzpolitik/soziale-medien-machen-welt-nicht-demokratischer/239.238.377

Der Skandal um Hitlers „Tagebücher“ ► http://www.ndr.de/kultur/geschichte/chronologie/1983-Der-Skandal-um-die-Hitler-Tagebuecher,tagebuecher2.html

The history of Satanic Panic in the US — and why it’s not over yet ► http://www.vox.com/2016/10/30/13413864/satanic-panic-ritual-abuse-history-explained

Das harte Geschäft mit Nachrichten ► http://www.zeit.de/1964/17/das-harte-geschaeft-mit-nachrichten

Zeitungsente ► https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitungsente

Wo der Grubenhund bellte ► http://www.zeit.de/1953/24/wo-der-grubenhund-bellte

Loriot – Die Steinlaus ► https://www.youtube.com/watch?v=DVKsbeayihI

Alligators in the Sewer ► http://urbanlegendsonline.com/alligators-in-the-sewer/

Spontane menschliche Selbstentzündung? ► https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x/videos/spnontane-menschliche-selbstentzuendung-100.html

Gabriel will erst nach der Bundestagswahl entscheiden, wer SPD-Kanzlerkandidat wird ► http://www.der-postillon.com/2017/01/k-frage.html

This Analysis Shows How Fake Election News Stories Outperformed Real News On Facebook ► https://www.buzzfeed.com/craigsilverman/viral-fake-election-news-outperformed-real-news-on-facebook?utm_term=.dw7lxo4VA#.noWy2gbBV

Shots Hired ► http://www.snopes.com/wikileaks-cofirms-hillary-clinton-sold-weapons-to-isis/

Former AG: Hillary Clinton May Have Broken Four Laws With Email Server ► http://dailycaller.com/2016/03/03/former-ag-hillary-clinton-may-have-broken-four-laws-with-email-server-video/

Former AG Michael Mukasey says he’s wrong about Clinton emails ► http://www.msnbc.com/msnbc/former-ag-michael-mukasey-says-hes-wrong-about-clinton-emails

Hillary Clinton warns fake news can have ‚real world consequences‘ ► https://www.theguardian.com/us-news/2016/dec/08/hillary-clinton-fake-news-consequences-pizzagate

Politiker fordern harte Strafen für Fake News ► http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-12/fake-news-strafen-gefaengnis-falschmeldungen-heiko-maas-martin-schulz

Tomorrow’s Internet: A World of Hyper-Personalized Tribes? ► https://www.wired.com/insights/2014/03/todays-internet-world-hyper-personalized-tribes/

How Facebook and Google Now Dominate Media Distribution ► https://mondaynote.com/how-facebook-and-google-now-dominate-media-distribution-6263365d141a#.y0yvy48gy

How Facebook Biases Your News Feed ► http://www.forbes.com/sites/nelsongranados/2016/06/30/how-facebook-biases-your-news-feed/#6895c6025bc7

Yuval Noah Harari on big data, Google and the end of free will ► https://www.ft.com/content/50bb4830-6a4c-11e6-ae5b-a7cc5dd5a28c

Grunddaten Jugend und Medien 2017 ► http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/Grundddaten_Jugend_Medien.pdf

Tribalismus/Tribalism ► https://en.wikipedia.org/wiki/Tribalism

Globe Earther kapitulieren: Erde ist 100% flach ► https://www.youtube.com/watch?v=XeasCLykYc0

Die Evolutionslüge ► https://www.youtube.com/watch?v=aLN9IvRwMpQ

Ist die Erde wirklich 6000 Jahre alt ? – Was die Bibel über die ersten Zeitalter der Erde sagt ► https://www.youtube.com/watch?v=aWZp9d-MlMU

Ungeimpfte Kinder sind gesünder / Impfen tötet und macht Krank ► https://www.youtube.com/watch?v=MY4PgpJmJR4

Politiker sprechen Klartext – BRD KEIN STAAT! | Wir zeigen Lösungen! Königreich Deutschland ► https://www.youtube.com/watch?v=6mKh0rkCLfY

Chemtrails 100% erklärt ► https://www.youtube.com/watch?v=CmAf1ObVYBM

Übersicht ausgewählter Informationspathologien / Bestätigungsfehler ► http://www.fh-kiel.de/fileadmin/data/wirtschaft/dozenten/schneider_stephan/Science/ResearchReport/Informationspathologien.pdf

Blue Feed, Red Feed ► http://graphics.wsj.com/blue-feed-red-feed/

Liberal Media See ‘Fake News’ Label Thrown Back In Their Faces ► http://dailycaller.com/2016/12/09/liberal-media-see-fake-news-label-thrown-back-in-their-faces/

„Ihr seid Fake News!“ ► http://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-gibt-pressekonferenz-ihr-seid-fake-news-a-1129595.html

Schulz fordert EU-weites Gesetz gegen Fake News ► http://www.sueddeutsche.de/politik/fake-news-schulz-fordert-eu-weites-verbot-von-falschmeldungen-1.3299552

Unionspolitiker fordern härtere Strafen für Fake News ► http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-12/cdu-fake-news-strafen-facebook

Vortrag: Flüchtlingsberichterstattung | Prof. Dr. Michael Haller ► https://www.youtube.com/watch?v=wm04hYRXIzE

Innenministerium will Abwehrzentrum gegen Falschmeldungen einrichten ► http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/fake-news-bundesinnenministerium-will-abwehrzentrum-einrichten-a-1127174.html

Art. 5 Grundgesetz ► https://dejure.org/gesetze/GG/5.html

Koalition will Facebook Meldestelle gesetzlich vorschreiben ► http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/thomas-oppermann-plant-gesetz-gegen-fake-news-a-1126182.html

Mit Algorithmen gegen Fake News ► http://www.handelsblatt.com/my/technik/it-internet/hackertreffen-in-hamburg-mit-algorithmen-gegen-fake-news/19190840.html?nlayer=News_1985586&ticket=ST-5579326-Na1ygCuDG2OI9cz6z0i6-ap1

Die Macht der Monopole ► http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/monopolstellung-von-google-facebook-und-co-13548917.html

Die Werbesupermächte ► http://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2016-08/facebook-google-werbung-daten-macht

Die Riesengewinne der Tech-Giganten: So viel verdienen Apple, Facebook, Google und Co. pro Sekunde ► http://www.businessinsider.de/was-apple-facebook-google-und-co-pro-sekunde-verdienen-2016-2

Alex Jones: Chemicals in the water are turning „the freaking frogs gay.“ ► https://www.youtube.com/watch?v=fgKvl5VQVkY

Medienkompetenz Abbildung ► http://ict-guide.edu-ict.zh.ch/sites/ict-guide.edu-ict.zh.ch/files/images/kap_4_1_medienkompetenz.jpg

Empirismus ► https://de.wikipedia.org/wiki/Empirismus

Kritisches Denken: Begriffe und Instrumente – ein Leitfaden im Taschenformat ► https://www.criticalthinking.org/files/german_concepts_tools.pdf

Transkript:

Der Doktorant – Willkommen im postfaktischen Zeitalter

So sicher wie der Wechsel der Jahreszeiten, so sicher ist auch das Kommen und Gehen von Modewörtern in und aus dem gesellschaftlichen Diskurs. Wörter also, deren Halbwertszeit in der Regel kürzer ist als der nächste Youtube Deutschland Trend und deren Aussagekraft nicht stärker ist als die tautologischen Schwafeleien unserer Bundesdrogenbeauftragten. „Postfaktisch“ ist ein solches Modewort, mit dem laut buchstäblicher Bedeutung ein Zustand beschrieben werden soll, in welchem faktenbasierte und sachliche Argumentationen und Darstellungen nicht mehr akzeptiert werden und stattdessen emotionale und rein subjektive Meinungsmache den Diskurs bestimmen. Im gleichen Atemzug taucht der Begriff „Fake-News“ immer wieder auf; als vermeintlicher Beleg für die Existenz eines postfaktischen Zeitalters, in dem wir uns nun befinden sollen. Doch was beschreiben diese Worte eigentlich wirklich und haben sie auch nach einer kritischen Analyse noch Bestand? Finden wir es heraus.

[Einleitung]

Sehen wir uns zuerst den Begriff „postfaktisch“ an. Der Wortteil „post“, welcher aus dem Lateinischen entlehnt wurde, bedeutet „nach“ oder auch „zeitlich später“. Der Wortteil „faktisch“ beruht auf dem gleichnamigen deutschen Adjektiv und beschreibt die Wirklichkeit oder Tatsächlichkeit eines Sachverhalts. Wenn etwas faktisch ist, dann ist es eine Tatsache.

Aus dieser Wortschöpfung heraus lässt sich bereits eine erste Unstimmigkeit erkennen: Gab es eine Zeit vor dem postfaktischen Zeitalter, also eines nur faktischen Zeitalters? Eine Zeit in der in erster Linie Sachlichkeit den gesellschaftlichen und politischen Diskurs bestimmte? Oftmals werden der Aufstieg der sozialen Medien, oder sogar gleich des gesamten Internets, als Startpunkt eines postfaktischen Diskurses genannt. Wenn wir uns jedoch Medien und Nachrichten aus den Jahrzehnten vor der allgegenwärtigen Verfügbarkeit einer Internetverbindung anschauen, dann fällt auf, dass das Vorkommen von Falschmeldungen, bewusster Fälschung und Täuschung sowie politischer Propaganda niemals ein seltenes Phänomen war.

Prominente Fälle von fehlerhafter Berichterstattung, wie die erfundenen Hitler-Tagebücher des Spiegel, die vermeintlich satanischen Rituale in Kindertagesstätten, welche in den USA in den 1980er Jahren eine Panik unter Eltern auslösten oder die fälschliche Todeserklärung des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow im Jahr 1963 zeigen, dass es sogenannte „Fake-News“ bereits gab, als das Internet für viele Menschen noch nicht einmal in der Denkweite des Möglichen lag.

Aber nicht nur menschliches Versagen führte schon immer regelmäßig zu „Fake News“, auch bewusste Fälschungen durch Journalisten und jene, die sich dafür halten, existieren bereits seit den Anfängen neuzeitlicher Massenmedien. Wer kennt nicht die sogenannte Zeitungsente, die manchmal mit humoristischer und manchmal mit betrügerischer Absicht ihren Weg in die Ausgabe eines Mediums findet. Auch ihr weniger bekanntes Gegenstück, der sogenannte Grubenhund, bei dem Leser mit einem oberflächlich überzeugenden, aber inhaltlich unsinnigen Brief an die Redaktion die Kompetenzen der ebensolchen prüfen wollen, ist eine interessante Spielart dieses Konzepts.

Von fingierten Lexikonartikeln, wie die berühmte Steinlaus von Loriot, bis hin zu modernen Sagen, auch Urban Legends genannt, in denen von Krokodilen in der Kanalisation oder sich selbst entzündenden Menschen berichtet wird, finden sich zahlreiche Varianten und Beispiele postfaktischer Erzählungen, oder eben „Fake News“.

Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs an Problemen mit diesen beiden Begrifflichkeiten. Nicht nur, dass „Fake News“ selbst keine Neuigkeit sind, nein, der extreme Variantenreichtum von falschen Nachrichten deutet daraufhin, dass wir es hier mit dem genauen Gegenteil eines klar abgrenzbaren Terminus zu tun haben.

Wovon wird also gesprochen, wenn sich auf „Fake News“ bezogen wird? Sind es die klassischen Zeitungsenten, bei denen Journalisten ihrer Arbeit nur bedingt nachgekommen sind? Oder ist es Propaganda, bei dem politische Akteure versuchen, durch Einflussnahme und selektive Informationsvermittlung, den öffentlichen Diskurs in die von ihnen gewünschte Richtung zu lenken? Und wie verhält es sich eigentlich mit mehr oder weniger offensichtlichen, satirischen Medien, wie dem Postillion oder der heute show? Für diese wurde der Begriff „Fake News“ nämlich ursprünglich ins Leben gerufen, um diese als Gegenentwurf zu den „Real News“, also den echten Nachrichten wie den Tageszeitungen oder der Tagesschau, abzugrenzen.

Gehen wir noch tiefer ins Detail, so wird die Gestaltlosigkeit von „Fake News“  immer deutlicher: Was ist, wenn wir zu einem bestimmten Zeitpunkt noch gar nicht feststellen können, ob eine Nachricht falsch oder richtig ist, weil uns dazu die notwendigen Informationen fehlen? Wenn keine andere Möglichkeit besteht, als Prognosen und Interpretationen zu unternehmen, in der Hoffnung, dass wir die Zukunft anhand vergangener Ereignisse und möglicher Kausalketten erahnen können? Wobei immer die Gefahr besteht, dass bestimmte Informationen niemals verfügbar sein werden und eine Nachricht dadurch ihre Falsifizierbarkeit verliert? Werden diese Meldungen dann retroaktiv in den Status der Falschheit erhoben und falls ja, was soll das bringen… der immer wieder heraufbeschworene Schaden, welcher durch „Fake News“ erzeugt werden soll, wäre dann ja bereits angerichtet.

[Teil 1 – Was sind Fake News wirklich?]

Wenn wir einen ehrlichen Blick auf den inflationären Gebrauch der Ausdrücke„Fake News“ und „postfaktisch“ werfen, dann lässt sich genau eine Konstante feststellen: Ihr Gebrauch findet vorrangig im Kontext des politischen Kampfbegriffs statt. Egal wo ein Verlautbarer des postfaktischen Zeitalters auf dem politischen Spektrum siedelt, es ist immer die ideologische Gegenseite, welche mit Auslassungen und falschen Informationen versucht  den öffentlichen und gesellschaftlichen Diskurs mit vermeintlich unlauteren Mitteln zu ihren Gunsten zu entscheiden.

Kaum deutlicher ließ sich das im letztjährigen US-amerikanischen Wahlkampf beobachten: „Diese Analyse zeigt, wie falsche Nachrichten über die Wahl die echten Nachrichten auf Facebook hinter sich gelassen haben“ titelte Buzzfeed und zeigt, in welcher Deutlichkeit angebliche „Fake News“ auf Facebook kurz vor dem Wahlabend an Zulauf erhielten und dabei sogar die Mainstream-Medien in ihrer Reichweite übertrafen.

Doch die fünf am häufigsten geklickten Falschmeldungen sind bei genauerer Betrachtung erschreckend ernüchternd: Die Meldung über die angebliche Unterstützung von Donald Trump durch Papst Franziskus sowie die Meldung über den Selbstmord eines FBI Beamten, welcher vermeintlich in den von Wikileaks veröffentlichten E-Mails aus Hillary Clintons Privatserver genannt wurde, stammen von selbsternannten Fake-News-Seiten, die sich auf das Verbreiten von Falschmeldungen spezialisiert haben, also mit Webseiten wie dem Postillion zumindest in Teilen vergleichbar sind.

Die beiden Berichte über angebliche Waffenverkäufe und geheime Verstrickungen von Hillary Clinton mit dem islamischen Staat, befinden sich irgendwo zwischen Interpretationen und noch-nicht-Gewissheiten. So wurde von Julian Assange, dem Gründer von Wikileaks, in einem Interview im Jahr 2016 ein sehr deutliches Bild von  einer Hillary Clinton gezeichnet, die durch ihre Rolle während des internationalen Militäreinsatzes in Libyen im Jahr 2011, möglicherweise mitverantwortlich für die Erlangung von Waffen durch den IS gewesen ist. Ob sich jedoch tatsächlich Nachweise darüber in den von Wikileaks veröffentlichten E-Mails befinden, konnte bis heute nicht geklärt werden. Und auch die Meldung darüber, dass Hillary Clinton aufgrund der Affäre um ihren privaten E-Mail-Server für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten ungeeignet wäre, beruht auf der Aussage von Michael Mukasey, einem Rechtsberater der US-amerikanischen Regierung. Diese Nachricht fällt in die Kategorie der schlampigen journalistischen Arbeit, bei dem die spätere Rücknahme der Aussage nicht berichtet wurde und auch keine Korrektur der ursprünglichen Meldung stattfand.

Handelt es sich hier also tatsächlich um ein neuartiges Phänomen, welches einen eigenen Sammelbegriff benötigt oder werden hier nur altbekannte journalistische Verfehlungen und politische Propaganda in neue Kleider gesteckt, um sie einfacher instrumentalisieren zu können?

Nur zwei der genannten Meldungen stammten tatsächlich von echten „Fake News“ Seiten und waren frei erfunden, während für die restlichen drei zumindest eine nachvollziehbare Grundlage an Informationen und Fakten bestand, auf die sich die Autoren berufen hatten. Dennoch wurde hier keine Differenzierung vorgenommen. Sie wurde durch den Begriff der „Fake News“ sogar unmöglich gemacht. Unisono wurden diese und andere Meldungen in einen Topf geworfen und als „Fake News“ gegeißelt. Fehlerhafte Berichterstattung verschwamm mit bewusster Propaganda und frei erfundenen Nachrichten, waren sie nun satirischer oder rein böswilliger Natur.

Eine ähnliche Situation bahnt sich bereits in Deutschland für die kommende Bundestagswahl im Herbst des Jahres 2017 an und schon jetzt wird laut über mögliche Gesetze nachgedacht, um eine Situation, wie sie in den USA vor der Wahl stattgefunden hat, zu verhindern. Doch was ist das überhaupt für eine Situation, die verhindert werden soll? Oder anders gesagt, wie können sich falsche Meldungen, frei erfundene Nachrichten und politische Propaganda überhaupt so einfach und so schnell im Internet verbreiten? Werfen wir als nächstes einen Blick auf das tatsächliche Problem, um das es in der Debatte um „Fake News“ eigentlich geht.

[Teil 2 – Cyber-Balkanisierung]

Auf die Frage danach, welcher Trend sich im Verlauf der nächsten Jahre und Jahrzehnte durch das weltweite Netz ungehindert fortsetzen wird, gibt es nur eine Antwort: Das personalisierte Internet. Die Algorithmen der Marktführer in Sachen Informationsfluss, wie Google und Facebook, bestimmen heute bereits, welche Inhalte jeder individuelle Nutzer zu sehen bekommt. Und keine Nutzererfahrung gleicht der anderen. Das ist zumindest das ultimative Ziel dieser Technologien.

Auf den ersten Blick, scheint diese Entwicklung vor allem positiv zu sein: Niemand bekommt mehr Webseiten, Filme, Musik und Bücher empfohlen, die ihn nicht interessieren. Selbst die Werbung ist zumindest auf Zielgruppen maßgeschneidert oder adressiert gleich direkt den eigenen, persönlichen Geschmack. Neben der erhöhten Bequemlichkeit und des verringerten Zeitaufwands bei der Suche nach neuen Inhalten und Produkten, fungieren diese Algorithmen auch als Entscheidungshilfe. Denn mit einer ausreichend großen Menge an Daten über einen Nutzer, kennen Computerprogramme den eigenen Geschmack besser als der Nutzer selbst. Ein spannender, wenn auch gleich erschreckender Ausblick auf die fortschreitende Digitalisierung unserer Gesellschaft.

Doch, wie alles im Leben, birgt auch das personalisierte Internet negative Aspekte und Gefahren. Und zwar nicht zu knapp. Eine immer individuellere Einzelerfahrung des Mediums Internet, welche bereits heute die am häufigsten genutzte Informationsquelle vieler Menschen unserer Gesellschaft ist (Tendenz steigend), führt unweigerlich zu Isolationsprozessen. Denn nicht nur Unterhaltungsprodukte und Werbung unterliegen dem Drang zur Personalisierung. Auch Meinungen und Nachrichten werden vom Nutzer selbst nach und nach auf die eigene Perspektive und die eigene Weltanschauung zugeschnitten. Informationen, die gefallen, werden geklickt und abonniert und Informationen, die nicht gefallen oder sogar negative Gefühle hervorrufen, werden ignoriert oder sogar gleich geblockt.

Verwunderlich ist dieser Prozess nicht: Tribalismus, also das bilden von kleinen Gruppen und Mini-Gesellschaften innerhalb einer Gesamtgesellschaft, ist eine tief verwurzelte Eigenschaft des Menschen. Personen mit ähnlichen Sichtweisen, ähnlichen Ideen und Werten sowie ähnlichen politischen Ausrichtungen schätzen wir als sympathisch ein und sind auch eher bereit mit diesen Bekanntschaften zu machen und Freundschaften einzugehen. Ein gegenteiliger Prozess findet gegenüber Personen statt, die uns weltanschaulich unähnlich sind. Wir tendieren dazu diese Menschen zu ignorieren, zu meiden oder sie sogar zu unseren Feinden zu erklären.

Diese Verhaltensweisen waren nützlich, als Menschen in Kleingruppen lebten und die erste Priorität das tägliche Überleben war. Hier konnte das eigene Vertrauen in andere Mitglieder dieser Gruppe den Unterschied zwischen Leben und Tod machen. Gemeinsame Ziele und Werte sind eine Grundlage für Vertrauen und eine erfolgreiche Zusammenarbeit, weshalb sich diese Eigenschaften als Indikatoren für Sympathie und mögliche Freundschaften etablierten.

Übertragen wir dieses Prinzip jedoch auf ein globalisiertes und vollvernetztes Zeitalter, in der sich jedes Individuum den eigenen Blick auf die Welt personalisieren kann, erwächst ein bisher unbekanntes Phänomen: Die sogenannte Cyber-Balkanisierung.

Cyber-Balkanisierung überträgt den Begriff der Balkanisierung, welcher den Zerfall einer Nation in kleinere Einzelstaaten oder das Loslösen von Landesteilen eines Staates beschreibt, auf das Internet. Durch konstante Personalisierungsprozesse bildet sich ein weltumspannendes Netzwerk aus unterschiedlich großen, sehr spezifischen und teilweise stark voneinander isolierten Nutzergruppen. Auch wenn ein Informationsaustausch zwischen verschiedenen Gemeinschaften möglich ist und sich manche Individuen in mehreren dieser Gruppen bewegen, läuft der Prozess der Cyber-Balkanisierung gerichtet auf einen Zustand, in dem die Mitglieder solcher Gemeinschaften ein nahezu maximales Ähnlichkeitsniveau in Bezug auf bestimmte Meinungen, Werte und Weltbilder besitzen.

Zusätzlich ermöglicht es der globale Charakter dieses Netzwerks, dass auch jede noch so kleine und extreme Randerscheinung des Meinungsspektrums eine so ausreichend große kritische Menge an Unterstützern findet, dass sie sich selbst am Leben erhalten und darüber hinaus sogar noch die Fähigkeit erlangen kann gesellschaftlichen Einfluss auszuüben.

Um die Hypothese der Cyber-Balkanisierung zu bestätigen, müssen wir nur einen Blick auf den unglaublich artenreichen Mikrokosmos der Verschwörungstheorien und deren Anhänger werfen, welche seit der Popularisierung des Internets eine ungeahnte Blütezeit erfahren. So finden wir Nutzergruppen welche, entgegen jeglicher Akzeptanz der wissenschaftlichen Fakten, dem Glauben anhängen, dass die Erde eine Scheibe ist und sich nicht mit hoher Geschwindigkeit um die eigene Achse dreht und um die Sonne bewegt. Oder dass die Evolution eine Lüge ist und die Erde nur 6000 Jahre alt sein kann. Oder dass Impfungen gefährlich sind, krank machen und Menschen töten. Von den Auswüchsen politischer Verschwörungstheorien ganz zu schweigen. Für jede noch so denkbare Absurdität findet sich mindestens eine Online-Community, in der sich rege und vor allem unkritisch darüber ausgetauscht wird.

Waren diese Extremmeinungen vor der Verfügbarkeit des Internets auf räumlich weit voneinander getrennte Einzelpersonen verteilt, so können sich heute alle diese Individuen über das Internet zusammenschließen und eine eigene Gemeinschaft bilden, in der sie ihre Werte und Ideen miteinander teilen. Eine Echokammer ist geboren, durch die sich die Cyber-Balkanisierung in einen autokatalytischen Prozess verwandelt. Der regelmäßige Austausch und die gegenseitige Bestätigung zwischen den Mitgliedern innerhalb dieser Echokammer führt zu einer weiteren Extremisierung der Meinungen. Diese noch extremeren Meinungen führen zu stärkerer Ablehnung durch andere Gruppen, was die Isolation der Echokammer weiter erhöht. Die stärkere Abschottung führt zu einem größeren Fokus auf die eigene Gruppe und damit wieder zu einer weiteren Verschärfung der Meinungen. Der Prozess beschleunigt sich selbst.

Eine zweite menschliche Eigenschaft führt dann zur unrühmlichen Perfektion des Problems: Der Bestätigungsfehler oder auf Englisch „confirmation bias“. Die durch so extreme Balkanisierungs-Prozesse entstandenen Gemeinschaften, sind so weit von der beobachtbaren Realität entfernt, dass eine Akzeptanz von wissenschaftlichen Fakten und anderen Meinungen einer vollständigen Revidierung des eigenen Weltbilds und damit einer Selbstaufgabe gleich kommt. Es wird also, bis es unvermeidlich wird, das bisherige Weltbild mit allen möglichen Mitteln aufrecht erhalten. Das Ignorieren, Verdrehen und Erfinden von Fakten, wird hier zum Modus Operandi, und diese Verhaltensweisen werden noch am passendsten vom Begriff „postfaktisch“ erfasst, da hier tatsächlich „Fake News“ zwischen den Mitgliedern dieser Gemeinschaften verbreitet werden, um den kollektiven Irrglauben am Leben zu erhalten.

Voneinander isolierte Echokammern bilden sich jedoch nicht nur in kleinen, spezifischen „Subkulturen“ des Internets. Auch Themen, welche breiten Anklang in der Gesamtbevölkerung finden, unterliegen den gleichen Prozessen der fortschreitenden Personalisierung des Internets und der daraus resultierenden Cyber-Balkanisierung, inklusive aller bereits von mir genannten Probleme. Ein hervorragendes Beispiel dafür bildet die Webseite „Blue Feed, Red Feed“, ins Leben gerufen im Zuge der letzten US-amerikanischen Wahl durch das Wall Street Journal. Erneut bietet das politische System der Vereinigten Staaten eine gute Demonstration der Problematik, da wir es hier mit einem de facto Zwei-Parteien-System zu tun haben, was zwangsläufig in einer Dichotomie der meisten politischen Debatten mündet.

„Blue Feed, Red Feed“ stellt einen konservativen bzw. republikanischen Facebook-Newsfeed einem liberalen bzw. demokratischen Facebook-Newsfeed gegenüber und offenbart damit, welche Resultate ein absolut personalisierter Informationsfluss erzeugt. Während bald-Präsident Trump im demokratischen Newsfeed dämonisiert wird, erklärt der republikanische Newsfeed Trump zum Heilsbringer eines endlich wieder großartigen Nordamerika. Umgekehrt passiert vergleichbares mit der gescheiterten ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Clinton. Progressiver Heiland oder bis aufs Mark korrupte Berufspolitikerin mit Machiavelli-Komplex. Nuancen und Differenzierungen werden gemeinsam mit den Fakten am Straßenrand der Informationsautobahn zurückgelassen und nur dann wieder eingesammelt, wenn es gerade in die eigene Narration passt.

Auffallend ist vor allem: Anstatt eine direkte Konversation über die Meinungsverschiedenheiten zu beginnen, reden die Mitglieder dieser Gemeinschaften in erster Linie miteinander über die jeweils andere Gruppe. Und so wird mit Hilfe des Bestätigungsfehlers ein Götzenbild des politischen Gegners aufgebaut, ein sprichwörtlicher Strohmann, welcher, wenn überhaupt nur in Teilen den Fakten entspricht und welcher nach Lust und Laune angezündet werden kann, wenn den Gruppenmitgliedern der Wunsch danach steht.

Sogenannte „Fake News“ sind jetzt also nur eine neue Variante dieses Strohmanns. Sobald auch nur der Anschein besteht, dass eine Nachrichtenmeldung einen politischen Einschlag haben könnte, kann mit der „Fake-News“-Anschuldigung scheinargumentiert werden. Ob es sich dann jedoch wirklich um eine frei erfundene Erzählung handelt, politisch motivierte Meinungsmache am Werk ist oder Journalisten einfach nur schlampig gearbeitet haben, spielt keine Rolle. Das erzeugte Stigma am politischen Gegner ist wichtiger, als die Suche nach der Wahrheit.

Es lässt sich also erkennen, dass die Begriffe „postfaktisch“ und „Fake News“ nicht viel mehr sind als Worthülsen, die nur darauf warten mit politisch aufgeladenem Inhalt gefüllt zu werden. Sie dienen immer nur dem, der sie für seine Zwecke einsetzt und sie helfen nicht dabei eine klare und unvoreingenommene Perspektive auf die Welt zu erlangen. Trotzdem werden beide Begriffe weiterhin den politischen Diskurs der nächsten Monate bestimmen und bereits jetzt wird über mögliche gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung von „Fake News“ debattiert. Aber sind Gesetze überhaupt in der Lage etwas an dieser Situation zu verändern?

[Teil 3 – Können Gesetze überhaupt helfen?]

„Fake News“ werden im aktuellen Diskurs deutscher Politiker oft nicht als „Fake News“, sondern als „gezielte Desinformation“ bezeichnet, die verboten werden soll oder gegen die zumindest effektive Maßnahmen für eine schnelle Löschung entwickelt werden müssen. Doch hier spannen sich erneut die Fallstricke der schwammigen Definition: Selbst der Begriff „gezielte Desinformation“ hilft nicht bei der Unterscheidung zwischen satirischen „echten Fake News“ wie dem Postillion, fehlerhafter Berichterstattung z.B. im Rahmen der aktuellen Flüchtlingskrise [Vortrag Michael Haller] oder politischer Einflussnahme durch unter anderem staatsnahe Medien, wie Al Jazeera, Russia Today und den deutschen öffentlich-rechtlichen Medien.

Werden also zukünftig per Gesetz Artikel vom Postillion verboten, weil sie als „gezielte Desinformation“ interpretiert werden können, vor allem dann wenn ein politisches Thema satirisch gehandhabt wird? Werden Zeitungen oder Journalisten für fehlerhafte Meldungen oder für zu wohlwollende Perspektiven auf ein Thema juristisch verfolgt und bestraft? Und werden staatsnahe Medien gesetzlichen Regelungen unterworfen, um eine positive Berichterstattung zugunsten bestimmter politischer Parteien oder Akteure zu verhindern?

Solche und ähnliche Maßnahmen, wären weder einer freiheitlich-demokratischen Werte- und Gesellschaftsordnung angemessen, noch würden sie pragmatische und überhaupt umsetzbare Lösungswege anbieten. Denn erneut tritt die Problematik des „Hinterher ist man immer klüger“ auf: Staatliche Organe wie Gerichte und Polizeibehörden können nicht proaktiv in Bezug auf mögliche „Fake News“ handeln, da dafür weder ausreichende Kapazitäten noch Ressourcen vorhanden sind. Eine Vorabkontrolle von Nachrichtenmeldungen würde außerdem einer staatlichen Zensur gleichkommen und damit unbestreitbar gegen Artikel 5 des Grundgesetzes verstoßen. Es wäre also immer nur ein Eingreifen möglich, nach dem eine Falschmeldung bereits die Runden durch die sozialen Medien und das Internet insgesamt gemacht hat. Der bis dahin angerichtete Schaden ließe sich nicht rückgängig machen.

Diesem Problem sind sich auch die Befürworter einer Einschränkung von „Fake News“ bewusst und daher soll die Überwachungsverantwortung weg von staatlichen Stellen, auf die privaten Unternehmen übertragen werden. Dieser Schritt scheint logisch, da Firmen wie Facebook und Google die Plattformen betreiben und bereitstellen, auf denen sich der postfaktische Meinungssturm entlädt. Ein nachvollziehbarer Schritt… zumindest dann, wenn man nur den Handlungszwang der Befürworter im Blick hat; frei nach der Devise „Aus den Augen, aus dem Sinn“ sollen sich ab sofort die vermeintlichen Verursacher des Problems auch gefälligst um dessen Beseitigung kümmern. Womit? Natürlich mit Algorithmen, die die „Fake News“ von den „Real News“ unterscheiden und aussortieren. Die Frage danach, ob das überhaupt im Bereich des Möglichen liegt, wird, wie so oft, überhaupt nicht gestellt.

Wenn nun Algorithmen mit neuen Algorithmen bekämpft werden sollen, dann ist klar, dass wir nur ein paar Umleitungen auf dem Weg in den unvermeidbaren Abgrund nehmen. Wir erinnern uns: Algorithmen, die zur Personalisierung und Individualisierung des Internets für jeden Nutzer führen sollen, sind der Brennstoff für die Zersplitterung des Internets in isolierte Gemeinschaften und einer der Hauptgründe, die zur Entstehung des Problems der „Fake News“ führen und geführt haben. Diese Algorithmen sollen die Nutzererfahrung verbessern und letztendlich zu einem gesteigerten Verkauf von Werbung und Produkten führen. Es handelt sich also um eine intrinsische Eigenschaft dieser Internetunternehmen: Profitmaximierung. Wären Facebook und Google tatsächlich an einer effektiven Lösung des Problems interessiert, müssten sie den von ihnen eingeschlagenen Entwicklungsweg umkehren, weg von einer Personalisierung und hin zu einem breiten Angebot verschiedener Informationen, welches wieder die Gefahr geringerer Umsätze und Profite birgt. Es gehört also viel Gutgläubigkeit dazu anzunehmen, dass diese Unternehmen das Wohl der Gemeinschaft im Sinne haben und nicht einfach nur nach neuen Wegen suchen, um die Profitmaximierung bei gleichzeitiger, halbherziger Umsetzung gesetzlicher Maßnahmen zu verfolgen.

Ein weitaus größeres Problem ist jedoch nicht die Desinteressiertheit von Facebook, Google und Co die Problematik anzugehen. Eine nahezu monopolartige Kontrolle des Informationsflusses ist bereits heute Anlass für schwerwiegende Bedenken in Bezug auf die Macht, die von einigen wenigen privaten Unternehmen in den Händen gehalten wird. Eine staatliche Legitimation dieser Firmen, Einfluss auf das Informationsangebot zu nehmen ist eine fast schon orwellsche Dystopie. Intransparente, für den einzelnen Nutzer nicht nachvollziehbare Manipulationen an den Nachrichten die er teilt oder zu Gesicht bekommt wären eine Bankrotterklärung an westliche Werte wie Presse- und Meinungsfreiheit und würden ultimativ den Gedanken einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung untergraben. Erneut stellt sich die Frage, warum die Plattformbetreiber von Facebook, Youtube und Twitter das Wohl der Gesellschaft über ihre eigenen unternehmerischen Interessen stellen sollten. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass das Firmenmantra aus unerklärlichen Gründen utilitaristischer Natur ist, stellt sich direkt die nächste Frage: Das Wohl *welcher* Gesellschaft und *welcher* Werte wird als Maß aller Dinge hochgehalten? Schließlich agiert ein globales Internetunternehmen in vielen verschiedenen Gesellschaftsformen, mit vielen unterschiedlichen kulturellen Werten. Falls hier die Wahl auf den kleinsten gemeinsamen Nenner fallen sollte, nämlich der Vermeidung der persönlichen Kränkung, dann dürfen wir uns jetzt schon einmal auf ein glorreiches neues Zeitalter, nach dem postfaktischem, gefasst machen.

[Zusammenfassung]

Fassen wir also zusammen: Der Gebrauch der Begrifflichkeiten „postfaktisch“ und „Fake News“ im aktuellen Diskurs ist selbst eine Form von Desinformation. Deren schwammige Definitionen können auf so viele verschiedene Einzelprobleme moderner Informationsvermittlung angewendet werden, dass ihre Verwendung kaum nutzbringende Erkenntnisse transportieren kann. Ausschließlich in der Beschreibung von Verschwörungstheorien, deren Legitimation bereits mit einer überwältigenden Menge an empirischen Fakten widerlegt werden konnte, kann die Verwendung dieser Begriffe treffend und daher hilfreich sein. Aus diesem Grund sollten fehlerhafte Berichterstattung, absichtliche Falschmeldungen humoristischer oder betrügerischer Art und politische Propaganda als das bezeichnet werden was sie sind: Journalistisches Versagen, Satire, Schwindel und Propaganda. Ein Sammelbegriff verschleiert die wahren Hintergründe hinter einer verdächtigten Nachrichtenmeldung und erschwert eine sachliche und faktenbasierte Meinungsbildung der Öffentlichkeit.

Gesetzliche Maßnahmen gegenüber Falschmeldungen und fehlerhafter bzw. manipulativer Berichterstattung sind aufgrund der unabänderbaren Zeitverzögerung zur Wirkungslosigkeit verdammt. Mit einer Ausnahme: Einer staatlich sanktionierten Informationskontrolle vor der Veröffentlichung von Nachrichtenmeldungen. Diese Maßnahme würde jedoch eine fundamentale Verletzung unserer gesellschaftlichen Grundordnung bedeuten und Artikel 5 des Grundgesetzes missachten. Zusätzlich würde damit die Macht über den Informationsfluss einzelner privater Internetunternehmen um ein Vielfaches gesteigert werden und die Kontrolle der Inhalte der Intransparenz und den Gewinnmaximierungswünschen von Facebook, Google und Co unterliegen.

Ein Lösungsansatz kann, aus meiner Sicht, nur die folgenden Formen annehmen: Es muss eine grundlegende Änderung der Bildungsschwerpunkte unseres Schul- und Bildungssystems stattfinden. Neugier, Skepsis sowie Fähigkeiten und Methoden zur Recherche müssen gesamtgesellschaftlich kultiviert werden. Medienkompetenzen sollten von der Wiege an gelehrt werden und auch die Auseinandersetzung mit kontroversen, selbst für den Einzelnen unangenehmen Themen muss geübt und geschult werden. Der Rückzug ins Emotionale und der Standardhaltung des „Das ist meine Meinung“ oder des „das glaube ich“ muss entgegengewirkt werden. Diese Formen der Scheinargumentation dürfen nicht geschützt werden, sondern müssen als Formen inakzeptabler Debattenführung bewusst gemacht werden. Die Bereitschaft zur Debatte muss gefördert werden und die Debattenkultur sollte den Standards des Empirismus, also der Quellenangaben, der Belege und der Nachweise auf Basis des Beobachtbaren, unterliegen. Gute und redliche Argumentationsführung sollte als das Maß der Dinge gelten und das Bewusstsein über die eigenen menschlichen Schwachpunkte des Denkens sollte geschärft werden.

Der Bestätigungsfehler, Tribalismus und die Gefahr der Fehl- und Trugschlüsse müssen als Gegebenheiten anerkannt werden und mögliche Bewältigungsstrategien dieser Fehler im Denken sollten vermittelt werden. In gleichem Maße muss jedoch auch dafür gesorgt werden, dass Änderungen der eigenen Meinung nicht mehr als –schwäche sondern als Charakterstärke betrachtet werden, wenn eine solche Meinungsänderung aus nachvollziehbaren Gründen passiert, z.B. wenn eine Person neue Informationen erhalten hat. Alle diese Strategien lassen sich auch für jeden Einzelnen auf der persönlichen Ebene umsetzen. Das bedeutet vor allem, aus der eigenen Komfortzone herauszutreten und die Debatte mit weltanschaulich unähnlichen Menschen und Gruppen zu suchen und dabei die Ideale des kritischen Denkens und der redlichen Argumentation vor sich herzutragen.

Die sozialen Medien und deren Plattformen sollten diese Geisteshaltung wiederspiegeln: Ein offener und ehrlicher Diskurs sollte gefördert und nicht unterdrückt werden. Das Löschen von Nachrichten oder das Sperren von Nutzern sollte nur in deutlichen und gut begründeten Fällen möglich sein. Zusätzlich sollten alle diese Prozesse als so transparent wie möglich präsentiert und für jeden Nutzer einsehbar gestaltet werden. Alle diese Maßnahmen und Rahmenbedingungen sollten gesetzlich verankert und private Unternehmen zum Erhalt und zur Förderung der Meinungsfreiheit verpflichtet werden.

Oder anders gesagt: Alles was wir derzeit in der Debatte um „Fake News“ beobachten können, sollte in die genau gegenteilige Richtung ablaufen.

St. Kiyak [Gastbeitrag von Maricon]

„Gabriel, Kretschmann, von der Leyen: Hochrangige Politiker fordern ein Ende der Political Correctness. Sie handeln damit unverschämt, undemokratisch und asozial.“

Manchmal gibt es wirklich Dinge die einen sehr, sehr ungehalten machen und ich muss sagen, dieser Artikel ist einer davon. So ungehalten, dass man einen Freund darum bittet mich auf seinem Blog schreiben zu lassen. Dieser Absatz da oben ist ein Abschnitt aus eben besagtem Artikel und ich will ihn Stück für Stück auseinandernehmen. Denn ich glaube es wird mal Zeit. Dies wird definitiv eine Weile dauern, denn mit diesem Artikel stimmen so, so viele Sachen nicht. Also, wenn man noch etwas zu tun hat, sollte man es vor dem Lesen tun. Wer die Zeit nicht hat kann auch zum Fazit am Ende springen. Mein Name ist zweckmäßig Maricon und ich werde heute ihr sarkastischer Gastgeber sein.

„Man hört das neuerdings wieder öfter: Die Political Correctness gehöre abgeschafft. Weniger Political Correctness würde weniger Rechtsextremismus erzeugen oder wenigstens dafür sorgen, dass Wähler sich nicht von Rechtspopulisten verführen ließen. Denn das Abdriften in die Radikalität sei eine Reaktion auf Sprechtabus.“

Hier haben wir bereits den ersten erkennbaren Mangel an Verständnis der Reaktion. Es ist nicht nur eine Reaktion auf die „Sprachtabus“, sondern geht bei weitem darüber hinaus. Es geht unter anderem auch darum, was für einen Einfluss die Political Correctness auf Dinge wie zum Beispiel die Gesetzgebung und die Ausgabe von öffentlichen Geldern ausübt. Oder, wie man später in diesem Artikel noch sehen wird, was für einen Einfluss auf den Realitätssinn im öffentlichen Diskurs. Diskussionen wurden beispielsweise bereits in den ersten Tagen der Flüchtlingskrise zugunsten von Political Correctness beeinträchtigt, indem man meinte man sollte „Rechts keinen Raum einräumen“.

„Ist das so? Ist Political Correctness eine Art Gesetz, dessen Abschaffung oder Änderung man fordern kann, wie es Ministerpräsident Winfried Kretschmann aus Baden-Württemberg auf dem Grünen-Parteitag ausrief:

„Wir dürfen es mit der Political Correctness nicht übertreiben!“”

Ich weiß nicht wie man darauf käme aus dem dort zitierten Satz abzuleiten, dass es sich um eine Art geltendes Gesetz handeln würde, welches man damit kritisiert. Es scheint mir aber relativ offensichtlich, dass es sich um eine Kritik des Verhaltens der Gesprächsteilnehmer, nicht um eine durchgesetzte allgemeine Gesetzgebung handelt. Natürlich kann ich mich auch irren, denn dieser Artikel gibt leider viel zu wenig Informationen mit einem derartig kurzen Satz.

Auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) attestiert den Politikern:

„Ja, die Political Correctness ist überzogen worden.“

Und Sigmar Gabriel, der gern der nächste Kanzlerkandidat der SPD werden möchte, klagte in einer Bundestagsfraktionssitzung angeblich über „zu viel Political Correctness“ im Dialog mit den Bürgern.

Gabriel hat es anscheinend auch nicht ganz verstanden, denn der Punkt ist ja gerade, dass kein richtiger Dialog stattfindet.

„Zunächst einmal ist Political Correctness eine Chiffre für eine über Jahrzehnte dauernde Anstrengung, die Zivilisation und ihre Werte als Errungenschaft zu betrachten, an der nichtweiße Menschen genauso einen Anteil tragen wie weiße.“

  1. Nach wessen Interpretation?
  2. Welche Zivilisation ist hier gemeint?
  3. Welche Werte?
  4. Was für einen Anteil?

„Amerikanische Studenten gruben diesen vergessenen Begriff der politischen Korrektheit aus und benutzten ihn in ironischer Weise. Sie wollten darauf aufmerksam machen, dass es doch nicht sein kann, dass auf amerikanischen Universitäten immer nur Bezug auf weiße Männer genommen wurde, aber nie auf Frauen, Schwarze und andere Minderheiten. Und tatsächlich stellte man sofort fest, dass durch das Ignorieren von bedeutenden Schriften und Denkern aus anderen Teilen der Welt eine Gewichtung und Benachteiligung stattgefunden hatte.“

Dies hat wenig Relevanz für die moderne Konzeption des Begriffes, da er in dieser Form nicht mehr wirklich benutzt wird. Außer von den Leuten die speziell diese Interpretation popularisieren wollen, aber das wäre nochmal etwas komplett anderes.

„Political Correctness wollte anfangs vor allem die Reflexion über eine unverhältnismäßige Hierarchisierung von Minderheiten, „fremden“ Völkern und ihren Kulturleistungen erreichen. Wessen Schriften werden verlegt, gelesen, gelehrt? Inwieweit zeugen Sprache und Gesetze von Benachteiligung einzelner Gruppen?“

Der Witz an dieser Aussage ist ja, dass “Political Correctness” in der modernen Konzeption gerade eine Hierarchisierung vornimmt. Die „Oppression Olympics“. Statt des hier genannten „Wessen Schriften werden gelesen“, was eine recht nutzlose Fragestellung ist, ist die eigentliche Frage allerdings „Welche Schriften, für was und wofür?“ Was bedeutet Benachteiligung in diesem Kontext? Benachteiligung ist vollkommen irrelevant, solange es nicht gerade eine illegitime Benachteiligung ist und die sollte erst einmal nachgewiesen werden.

Anständig bleiben, nachdenken, klug reden

Von hier an wird es dann wirklich witzig.

„Halten Grundsätze der Demokratie wie das Wahlrecht und die Rechtssicherheit für Homosexuelle, Schwarze, Unverheiratete, Alleinerziehende, Arme und Mitglieder von Religionsgemeinschaften nicht nur auf dem Papier, sondern auch dem realen Leben stand? Menschenrechte speisen sich auch aus dem Reden über Benachteiligte. Die Sprache ist ein Indikator für den Wert, den Minderheiten im öffentlichen Diskurs haben. Man kann sie mit Sprache bloßstellen und diffamieren, man kann sie auch schützen und integrieren.“

Worauf bitte will man hier hinaus? Es scheint mir relativ eindeutig, dass die Autorin meint die Gleichberechtigung würde nicht durchgesetzt, aber die tatsächliche Argumentation scheint sie außen vorlassen zu wollen. Die Links geben Beispiele, aber auch die muss man sehr hinterfragen. Dafür müsste ich allerdings die Artikel, gerade den zweiten, nochmal separat durchgehen aber selbst dann ist es nicht komplett klar ersichtlich, was eigentlich gemeint ist. Ich werde daher weitere Kommentare des Abschnitts vermeiden.

„Meistens sind es die Benachteiligten selbst, die auf ihre Gleichberechtigung pochen. Political Correctness ist ihr Versuch, sich zu emanzipieren. Die erbitterten Widerstände, mit denen sie zu kämpfen haben, zeigen die Notwendigkeit ihres Kampfes.“

  1. Hier werden mehrere Behauptungen, explizit wie implizit, gestellt die man wirklich mal analysieren muss. Der erste Satz geht davon aus, dass es bei „Political Correctness“ überhaupt um Gleichberechtigung geht, aber da gibt es bereits diverse Probleme. Wenn man sich mal besonders den englischsprachigen Raum ansieht, bemerkt man eine ganze paranoid-neurotische Bandbreite von Auswirkungen, die die Political Correctness hervorruft und nicht alle haben mit Gleichberechtigung auch nur implizit zu tun. Sexistisches Airconditioning, „Donglegate“ oder „Personal Pronouns“, es gibt haufenweise Dinge, die für Personen als Individuen lästig sind, welche dann, oft ohne Begründung außer einem überzogenen Gefühl von Wichtigkeit, zu einer Menschenrechtssache aufgeblasen werden. Unter dem (reinen) Vorwand, dass die Person diskriminiert wird. Der Komfort wird zum Recht erhoben, die Opposition zu diesem Ansatz als Unterdrückung gewertet.
  2. Nun zum zweiten Satz. Emanzipation bedeutet, dass man aus Gefangenschaft bzw. Unterdrückung entlassen wird. Und die Frage ist in diesem Fall gerade was genau diese sein soll. Das Problem am Begriff Political Correctness ist hier, dass die Autorin diesen nicht im Sinne der Leute, die ihn benutzen, definiert. Sie beschreibt ihn nur aber es ist relativ eindeutig, dass sie nicht meint oder weiß was gemeint ist. Die Definition die man bekommt, bzw. erahnen muss, wirkt sehr zu Gunsten einer bestimmten (eigenen) Position ausgerichtet, ohne tatsächlichen Bezug zu der Problematik, die damit häufig beschrieben wird. Aber gut, ich muss einräumen, wenn die einzigen Leute von denen ich den Begriff hören würde die deutsche Rechte wäre, wäre ich auch ziemlich verwirrt.
  3. Und nun zum letzten Teil des Abschnitts. Ich bitte darum ihn genau durchzulesen, denn das da ist wirklich etwas ganz besonderes in Sachen Argumentation. Hier wird nämlich die Idee, dass man mit der eigenen Position falsch liegen könnte, effektiv ausgeblendet. Wir liegen richtig. Die Widerrede beweist umso mehr, dass wir richtig liegen. Mit anderen Worten: Bis wir etwas anderes sagen, liegen wir richtig.

„“PC zu sein“ ist ein sehr technischer Begriff für die Bemühungen, Komplexität von Gesellschaft als gegeben und normal zu betrachten und sie nicht fortwährend für politische Zwecke zu denunzieren und zu instrumentalisieren. Wer das nicht kann oder will, der reagiert aggressiv darauf.“

Gnadenlos solipsistisch. Political Correctness beschreibt diverse puritanische Haltungen auf Basis von Identity Politics. Meistens zutiefst autoritäre.

„Der meint, dass „die“ Political Correctness schuld daran sei, dass er oder sie nicht sagen dürfe, dass Muslime oder Christen oder Juden oder Jesiden oder Aleviten, dass Schwarze aus Afrika oder Braune aus Mexiko, dass Homosexuelle oder Transgender aus Europa, krimineller, schlechter, ekliger, gefährlicher als andere seien.“

Ich weiß offen gesagt nicht, welchem Zweck die Anführungszeichen um das „die“ erfüllen. Aber abgesehen davon, ja. Leute mit bestimmten Weltanschauungen können sehr wohl als objektiv gefährlicher beschrieben werden, wenn diese Weltanschauungen Gewalt in bestimmten Situationen vorschreiben oder explizit erlauben. Da ändert sich nichts dran, nur weil es vielleicht eine Minderheitenanschauung sein könnte. Außerdem, in statistischer Hinsicht kann man sich sicher sein, dass es Unterschiede in den Gruppen gibt. Zum Beispiel wird man nur wenig säkulare Individuen finden, die ihre Kinder misshandeln wenn sie herausfinden, dass sie z.B. homosexuell sind.

„Wer sich auf sein Recht beruft, von „Schlitzaugen“ (Günther Oettinger über Chinesen) oder „wunderbaren Negern“ (Joachim Herrmann über Roberto Blanco) oder „belgischen Ackergäulen“ (Thilo Sarrazin über Muslime) zu sprechen, weil es ihm nicht gelingt, das Handeln eines Menschen vorurteilsfrei zu bewerten, der hat eine Vereinbarung mit sich selbst gebrochen: anständig bleiben, nachdenken, klug reden.”

Witzig finde ich hier dran wie wenig Sinn der Satz macht. „Schlitzauge“ ist eine Beschreibung die keine Bewertung eines Verhaltens darstellt, „wunderbarer Neger“ ist eine Bezeichnung, die keine „vor“-urteilhafte Beurteilung darstellt, da er es ja gerade auf der Basis seiner persönlichen Beobachtung aufstellt. Natürlich ist es beim Kommentator auch fragwürdig ob die Aussagen getroffen wurden/werden „weil es ihm nicht gelingt, das Handeln eines Menschen vorurteilsfrei zu bewerten“, aber irgendwie schiene es mir wie eine ziemlich bizarre, zu spezifische Begründung für diese speziellen Beispiele. Zum letzten Abschnitt sage ich jetzt mal nichts ausführliches, der Abschnitt endet mit einer Pointe.

„Rassistisch und primitiv wird überall gesprochen“

Von hier an wird es statt witzig eher daneben.

„Political Correctness kann man weder überziehen noch übertreiben. Es sei denn, man hat genug vom Denken und von der Lust, Gleichheit unter Menschen zu schaffen.“

Hier ist gleich nochmal ein kleiner Witz eingebaut. Unbewusst wie ich vermute. Die ursprüngliche Phrase der PC wurde benutzt, um Nähe zum Soviet-Kommunismus zu bezeichnen. Die hatten definitiv Lust Gleichheit zu schaffen.

„Genug davon, Vielfalt als Gleichwertigkeit zu betrachten.“

Wer auch immer das tut.

„Wer degradierende Begriffe für Schwarze, Homosexuelle oder Muslime im politischen Diskurs für unverzichtbar hält, muss von vorn beginnen.“

Misrepräsentation der Gegenposition.

„Nicht diejenigen, die diesen Zivilisationssprung schon hinter sich gebracht haben, müssen sich den politisch Unkorrekten anpassen, sondern umgekehrt.“

Ohne jetzt diesen großen Sprung nach vorne zu kritisieren… Ich könnte mich irren, aber haben wir uns hier von „Anti-PC ist eine Abneigung gegen Sprachtabus“ zu „Anti-PC bedeutet, dass die politische Korrekten sich den Unkorrekten angleichen“ bewegt?

„Wer keine Veranlassung darin sieht, in Flüchtlingen Kriminelle zu sehen, in Muslimen eine Staatsgefahr, der muss sich nicht dafür einsetzen, dass das so diskutiert werden darf.“

Davon abgesehen, dass es sich hierbei um die klischeemäßigsten, der Diskussion unwürdigsten Positionen von Migrationsgegnern in der Debatte handelt; zweifellos ein Zufall, dass es gerade diese sind, die benutzt werden um die Gegenseite anzugreifen, ehm… Doch. Man muss sich unbedingt dafür einsetzen, dass man Diskussionen führen darf, auch auf diese Weise. Auch mit lächerlichen Positionen. Gerade die lächerlichen Positionen. Man beachte allerdings das subtile Appellieren an eine bestimmte Meinungsgruppe sich bestimmten Diskussionen zu verschließen.

„Es gibt niemanden Bestimmtes, der für Political Correctness zuständig wäre. Es gibt keine Instanz, die mit Gewalt derlei Regeln durchzusetzen versucht.“

Was nicht heißt, dass nicht eine ganze Menge Leute versuchen eine zu etablieren. In Deutschland außerdem, ist das falsch, da wir Sprachgesetze haben, von denen auch einige eben auch in den entsprechenden Stil fallen.

„Es handelt sich um einen Diskurs.“

Wenn dieser Artikel Teil eines Diskurses ist, ist er der bislang unbeantwortete Anfang.

„Ein öffentliches Gespräch, das gleichzeitig die Ungleichheit illustriert. Die Mehrheit der Sprechenden gehört keiner gesellschaftlichen Minderheit an.“

Wirkt für mich beeindruckend bedeutungslos. Die Mehrheit der Sprecher gehört einer gesellschaftlichen Mehrheit an und diese ist damit eher vertreten als die Minderheit der Sprecher, die die gesellschaftliche Minderheiten vertritt. Man kann zumindest nicht sagen, dass dieser Satz inhaltlich keinen Sinn macht, er wirkt auf mich sehr intuitiv. Was er allerdings insgesamt für einen Sinn macht in dieser Kolumne, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Davon mal abgesehen, steht es der Autorin frei den Wert von Gleichheit zu demonstrieren. Es ist nämlich nicht inhärent wertvoll, obwohl es ein so vielgepriesenes Ideal ist.

„Umso alberner wirkt es natürlich, wenn die Beendigung der politischen Korrektheit von denjenigen gefordert wird, die Teil der privilegierten Klasse sind.“

Nur leider ist das hier nicht der ausschließliche Fall. Es fehlt natürlich immer noch das Erbringen des Beweises, dass es eine Privilegierung gibt, ohne strikten Bezug auf ein komplett von ad-hoc-Hypothesen getragenen ideologischen Systems und eine Definition von Recht, die kein Mensch außerhalb der Sozialwissenschaft anerkennen würde.

„Es steht denjenigen, die niemals die Erfahrung von Diskriminierung oder Rassismus gemacht haben, nicht zu, zu bestimmen, wann es genug ist mit Antirassismus.“

Mit anderen Worten, es ist egal was wir machen oder wie wenig Sinn das macht was wir tun, solange unsere Definition von Rassismus/Diskriminierung Dinge einschließt die ihr nicht erlebt habt, seid ihr nicht qualifiziert darüber zu reden, was für Maßnahmen angebracht sind. Klingt doch eleganter als „Schnauze halten“, oder?

Die Grenzen des Sagbaren sind längst überschritten

Waren sie schon immer. Seit es menschengemachte Grenzen gibt gibt es Überschreiter. Non-statement.

„Wenn Politiker in Zeiten von brennenden Asylheimen und Angriffen auf Minderheiten fordern, es müsse erlaubt sein, offen Probleme der Integration zu benennen, dann wird es düster und unverschämt:“

Weil wir in „hier spezifische Problem enthaltenden Zeitraum einfügen“ leben, darum dürft ihr in diesem Zeitraum nicht über bestimmte Probleme reden. Beeindruckend. Dieser Satz lässt mich an englische Nüsse denken.

„Wir haben in Deutschland viele Probleme, aber sicher keines damit, dass man sich nicht jederzeit rassistisch, widerwärtig und primitiv im öffentlichen Raum äußern dürfe.“

Wie hängt das nochmal mit dem Satz zusammen, der da vor dem Doppelpunkt steht? Ist die Aussage „es müsse erlaubt sein Integrationsprobleme anzusprechen“ eine Bitte um Erlaubnis sich öffentlich „rassistisch, widerwärtig und primitiv“ zu äußern? Ich bin verwirrt. Jemand erkläre mir diese Konstellation.

„Die öffentlichen Talkshows wären ohne die permanente Infragestellung von Minderheiten und ihrer angeblichen Integrationsfähigkeit aufgeschmissen.“

Man fragt sich wie viele Diskussionen bereits über die Integrationsfähigkeit von Homosexuellen oder Menschen mit Halsrippen stattgefunden haben, aber ich persönlich erinnere mich konkret an keine. Aber vielleicht soll dieses Statement auch nicht akkurat sein und stattdessen einfach nur die Empörung hochtreiben, indem es versucht die größere und heterogenere Gruppe „Minderheiten“ anstatt der Gruppe von Personen mit Migrationshintergrund anzuführen und so vortäuscht, dass es eine übermäßige Generalisierung gegeben hat. Oder die Autorin ist grauenhaft darin sich auszudrücken.

„Wenn Politiker hier in Deutschland glauben, dass man den rechtsextremen und autoritätssehnsüchtigen AfD-Wählern und Pegida-Mitmarschierern offiziell erlauben müsse,“

Warum kriegen wir für das „offiziell erlauben“ keine Quelle oder Erklärung? Ich wüsste nämlich wirklich gerne wer das gesagt haben soll.

„auch mal politisch inkorrekt sein zu dürfen – was immer damit gemeint sei – ,“

Es bedeutet, wie ich mit meinen massiven Talenten im Bereich Dechiffrierung entschlüsseln konnte, nicht politisch korrekt zu sein, ohne das man dafür einen Schwarm irrer Harpyien an den Hals bekommt, die versuchen die eigene Position aus Prinzip anstatt aus rationalem Anlass zu untergraben.

„damit die wieder CDU, SPD oder Grüne wählen, dann haben sie nicht verstanden, dass die Grenzen des Sagbaren schon längst, schon ganz längst überschritten sind.“

Non-sequitur. Dass die „Grenzen des Sagbaren“ überschritten sind ändert nichts daran, dass es eine versuchte Methode ist Wähler zurückzubekommen, denn der Zweck ist ja nicht die Leute daran zu hindern obszön zu werden. Da gibt es andere Bemühungen, aber damit haben die Wahlen nichts zu tun. Abgesehen davon wäre ja auch die Option möglich, dass es nicht um die Rückgewinnung sondern um das Wählerleck geht, welches damit gestopft werden soll.

„Mutig wäre es, wenn einer auf den Tisch hauen und sagen würde:“

Wie in diesem Artikel? Seht, ich vertrete die aus meiner Sicht korrekte Haltung von vor meinem Computer, bewundert meinen Heroismus.

„Schluss mit dem ekelhaften, dummen und unaufgeklärten Geschwätz über die Fremden, die Ausländer, Schwulen, Muslime oder Flüchtlinge.“

Hier ein neuer Teil aus unserer beliebten Reihe „Die Deutschen verstehen die Aufklärung nicht“ aus dem Verlagshaus Derp-aton. Mir fällt hier gerade auf; man weiß nicht was „politisch inkorrekt“ bedeutet, aber man kann immer noch sagen es sei ekelhaft, dumm und „unaufgeklärt“.

„Das würde Eindruck machen!“

Es zeichnet die Autorin, dass sie nicht versteht, dass das schlecht wäre.

„Unserem Land fehlt der Mut für Aufklärung, Anstand und Eleganz im Umgang mit Mitmenschen.“

Der nächste Teil ist auch schon raus, Derp-aton liefert frei Haus. Offengestanden weiß ich gar nicht ob Sie vom Zeitalter der Vernunft redet, welches ich meine oder einfach meint es sei etwas gutes jemanden wortwörtlich über etwas aufzuklären, selbst wenn die Klärung möglicherweise Schwachsinn wäre. Zum Anstand komme ich dann noch und was Eleganz angeht, würde ich mit der Sprache anfangen. Mit ihrer Sprache.

„Es ist nämlich eine Ehre,“

Man sollte sich geehrt fühlen unserer Auffassung zu folgen.

„in Sprache und Handeln politisch, ökonomisch, sozial und einfach menschlich korrekt zu sein.“

Menschlich korrekt zu sein bedeutet, wenn wir uns die Geschichte mal anschauen, dass wir uns gegenseitig aufgrund von Meinungsverschiedenheiten umbringen und versklaven sollten. Historisch gesehen ist Nordkorea menschlicher als was auch immer dieser Artikel darstellt.

Fazit: Dieser Artikel war eine lange Aneinanderreihung von schlecht gemachten Zitaten, ideologischem Narzissmus und endlosem Moralismus. Es ist eine implizite, aber darum nicht weniger gnadenlose Selbstbeweihräucherung. Anstand war einer der Begriffe, die mehrmals fielen und ich würde gerne mal nochmal darauf speziell eingehen. Anstand bedeutet eigentlich nichts anderes, als dass man sich einem bestimmten moralischen/ethischen, vielleicht noch eher sittlichen Standard nach orientiere. In anderen Worten, wenn die Autorin sagen würde, denn sie sagt es nicht geradeheraus, sie ist anständig, weil sie diese Standards vertritt, bedeutet das nichts anderes als „Ich handle moralisch weil ich der von mir proklamierten Moral folge“. Und sie kritisiert mit schön viel Überheblichkeit diejenigen, die das Reinheitsgebot nicht einhalten. Da ist der Puritanismus. Auch wenn die Definition von Political Correctness, die ich benutze anders ist, als die, welche die Autorin nutzt, kann ich immer noch sagen, dass es nur „meine“ Definition zu sein scheint, die auf sie zutrifft. Gewürzt ist der Artikel mit einem gehörigen Mangel an Grundverständnis der Probleme der Gegenseite, was nochmal zurückgeht auf den ideologischen und vielleicht einen tatsächlichen Narzissmus und den Mangel an kritischer Selbstreflektion. Viel zu viel (schlechte) Rhetorik, keine brauchbaren Argumente, zu viel Verlass auf die Richtigkeit der eigenen Position, zu viel Verlass auf Identity Politics als Basis des „Antirassismus“, kein Verständnis des Aufklärungsdenkens, fragwürdige und unklare Definitionen, schlecht geschrieben, überheblich…

TL;DR: Dieser Artikel war die Krätze. Cheers.

HASSkommentare auf Youtube

Gestern habe ich relativ spontan eine kurze Besprechung von drei Kommentaren vorgenommen, die vor einiger Zeit unter einem meiner Youtube-Videos gepostet wurden. Herausgekommen ist ein ca. 30 Minuten langer Monolog, frei gesprochen und mit vielen gedanklichen Abzweigungen. Trotzdem sind da vielleicht einige interessante Ausführungen dabei und daher möchte ich euch diesen Rant nicht vorenthalten. Viel Spaß!

Sexismus und Werbung

Heute geht es (mal wieder) um die NGO Pinkstinks und ich schaue mir ihre Kampagne „gegen Sexismus in der Werbung“ an. Die Mitwirkenden bei Pinkstinks scheinen aus irgendeinem Grund nicht verstanden zu haben, was der Unterschied zwischen Gleichberechtigung und Gleichstellung ist. Viel Spaß!

 

Musik für Sexisten

Eigentlich möchte man meinen, dass es auch in Zeiten der gegenderten Wissenschaft, sexistischer Videospiele und Geschlechterdiskriminierung an der Ladentheke zumindest eine handvoll an Themen geben muss, welche nicht dem Vorwurf des Sexismus und der Frauenfeindlichkeit anheimfallen. Doch schließlich sprach einst Popkultur-Kritikerin Anita Sarkeesian wie der Prophet vom Berge zu uns: Everything is sexist, everything is racist. Und frei nach diesem Motto agiert auch die Schweizer Frauenzeitschrift annabelle und nimmt sich in einem Artikel den „Sexismus in der Musikbranche“ vor.

Zu Beginn stellt Autorin Miriam Suter folgende Fragen:

Wo sind eigentlich die Frauen auf den grossen Bühnen? Diese Frage beschäftigt mich schon lange. Und warum scheint es für Musikerinnen im Allgemeinen schwieriger zu sein, Erfolg zu haben?

Doch bevor wir zum Inhalt der „Analyse“ von Frau Suter kommen, möchte ich einen kurzen Abstecher in das Reich der anekdotischen Evidenz vornehmen: Als langjähriger Hobbymusiker und ehemaliges Mitglied mehrerer Musik- und Bandprojekte ist mir persönlich die „Musikbranche“ in vielen Teilaspekten durchaus vertraut. Bereits in den Anfangsjahren meiner musikalischen Tätigkeit ist mir aufgefallen, dass bei der Suche nach passenden Mitmusikern die Auswahl weiblicher Teilnehmer signifikant geringer war als die Anzahl männlicher Optionen. Vor allem für das typische Schema Unterhaltungsmusik, mit Schlagzeug, E-Gitarre, E-Bass und Gesang, fanden sich meistens nur für Letzteres Musikerinnen, während sich für die drei bis vier übrigen Instrumente oftmals ausschließlich die Herren der Schöpfung auftrieben ließen. In meiner jungen Naivität hörte meine Verwunderung darüber jedoch schnell wieder auf und mir genügte die selber hergeleitete Erklärung, dass sich dieses Ungleichgewicht durch unterschiedliche Interessen und Vorlieben zwischen Männern und Frauen erklären lässt.

Oh, wie ungebildet ich doch war! Hätte ich nur damals schon die Gelegenheit bekommen mich darüber belehren zu lassen, dass die primären Gründe für diese ungleiche Geschlechterverteilung natürlich nur eins sein können: Sexismus und Frauenfeindlichkeit.

In diesem Sinne belehrt daher auch Frau Suter einen nicht namentlich genannten Bekannten in ihrem Artikel über dieses „Sexismusproblem“:

It’s a Man’s World

„Was ist denn dein Problem, Frauen sind ja momentan in den Charts sehr gut vertreten“, meinte letztens ein Bekannter zu mir. Das mag stimmen. Aber diese Tatsache verstärkt eigentlich meine Frage: Warum sind sie dann beispielsweise an den Festivals nicht ebenso sichtbar? Fest steht: Die Musikwelt ist eine Männerdomäne. An den diesjährigen Musikfestivals in der Schweiz siehts jedenfalls grösstenteils mau aus mit dem Frauenanteil. Am Open-Air St. Gallen treten 42 Acts auf, darunter 14 Frauen – solo, als Teil einer Band oder als DJ. Am Zürich Openair steht zwar noch nicht das ganze Programm, der aktuelle Stand ist aber dennoch ernüchternd: Unter den 16 bestätigten Acts sind 2 Frauen. Nicht ganz so gravierend, aber ähnlich sieht es nach aktuellem Stand der bestätigten Acts am Gurtenfestival aus: Unter den 51 auftretenden Bands findet man elf Frauen.

Mein naives, jüngeres Ich möchte jetzt antworten: „Na ja, wenn im Durchschnitt weniger Frauen zu Schlagzeug, E-Gitarre und E-Bass greifen, dann muss doch allein dadurch schon ein quantitativer Unterschied entstehen, welcher sich natürlich auch in der Anzahl an Frauen auf Festivalbühnen niederschlägt“. Besonders dann, wenn die erwähnten Festivals mehrheitlich Bands einladen, die diesem Schema der Instrumentenverteilung folgen.

Das findet auch Philippe Cornu, der im nächsten Absatz zu Wort kommt:

Philippe Cornu bucht die Bands fürs Gurtenfestival und sagt: „Es gibt unbestritten weniger Musikerinnen als Musiker, die E-Gitarre, Schlagzeug oder Bass spielen. Gesang und Keyboards sowie Saxofon sind unter den Frauen eher verbreitet.“

Und er fügt hinzu:

„Wir achten im Bookingprozess nicht zwingend auf das Geschlecht, sondern darauf, welche Band, Musikerin oder Musiker gefällt, passt und auch auf Tour ist.“

Etwas schwammiger ist dann jedoch seine Erklärung dafür, warum weniger Frauen zu den genannten Instrumenten greifen:

„Warum dies so ist, hat geschichtliche Hintergründe in der gesellschaftlichen Entwicklung und der Stellung der Frau.“

Dass z.B. restriktive Geschlechterrollen in der Vergangenheit Frauen mit hoher Wahrscheinlichkeit davon abgehalten haben eine Musikerkarriere ins Auge zu fassen, wodurch auch das Erlernen eines Instruments obsolet wurde, ist kaum abzustreiten (Nachtrag: Das galt zumindest für Frauen, die nicht Teil des gehobenen Bürgertums waren; siehe Hausmusik). Ähnliches sollte jedoch auch für Männer gegolten haben, denn die kostengünstige Massenproduktion von Musikinstrumenten, sowie die Möglichkeiten der analogen und digitalen Tonaufnahme sind erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Realität geworden. Die Anzahl der Instrumentalisten sollte sich vor dieser Zeit also stark in Grenzen gehalten haben, da nur für wenige überhaupt die finanziellen Möglichkeiten und Erfolgsaussichten bestanden einen solchen Karriereweg einzuschlagen. Ganz zu Schweigen davon, dass die besagten Instrumente (Schlagzeug, E-Gitarre und E-Bass) in ihrer heute noch gebräuchlichen Form erst im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Es können daher maximal die letzten 80 Jahre der „geschichtlichen Hintergründe in der gesellschaftlichen Entwicklung“ als Erklärung für das Geschlechterungleichgewicht herangezogen werden.

Insofern sich diese Argumentation als korrekt erweist, sollten wir außerdem Veränderungen dieses Ungleichgewichts finden; im besten Fall korreliert mit den Veränderungen der gesellschaftlichen Stellung der Frau. Wenn man sich allerdings die spärliche wissenschaftliche Literatur über dieses Thema anschaut, wird man überrascht. So schreibt Hal Abeles in seiner Publikation „Are Musical Instrument Gender Associations Changing?“ folgendes:

A comparison of the instruments played by boys and girls across three studies conducted in 1978, 1993, and 2007 showed little difference in the sex-by-instrument distribution. Girls played predominately flutes, violins, and clarinets, and most boys played drums, trumpets, and trombones.

Hier kommen wir also nicht weiter. Die empirischen Daten zeigen keine Veränderung der Präferenzen von Jungen und Mädchen bei der Wahl der Musikinstrumente. Realitätsferne Naturen könnten jetzt einwerfen: „Das liegt natürlich daran, dass sich auch die Stellung der Frau innerhalb der letzten 40 Jahre nicht verbessert hat!“. Und wer hätte es gedacht, in genau diese Kerbe schlägt auch der weitere Verlauf von Frau Suters Artikel:

Auch Fabienne Schmuki, Co-Geschäftsführerin der Zürcher Indie-Musikagentur Irascible Music, Kommissionsmitglied beim Popkredit der Stadt Zürich und Gründungsmitglied vom Musikverband Indie Suisse, findet: „Die Musikwelt ist eine Welt der Männer. In den Führungsetagen der grossen Schweizer Musiklabels gibt es kaum Frauen, wir besetzen vor allem die Positionen im Marketing oder der Kommunikation.“ Sie selbst hätten beim Berufseinstieg keine weiblichen Vorbilder gehabt. Schmuki hat, wie sie selbst sagt, eine „Männerschule“ genossen: „Ich arbeite viel mit Männern zusammen. Der Umgangston ist schon anders, rau, die Witze sind dreckiger. Aber wenn man damit keine Probleme hat, kann man sich in diesem Männerverein gut behaupten.“

[Hervorhebung nicht im Original]

Interessant ist hierbei nicht nur die Implikation, dass Frauen vermeintlich aufgrund von Geschlechterdiskriminierung seltener in den Führungsetagen großer Musiklabels sitzen. Nein, nicht nur das. Logischerweise ist diese fehlende weibliche Repräsentation in den Führungsetagen der Musiklabels auch der Grund dafür, warum Frauen weniger Interesse daran haben Schlagzeug, E-Gitarre und E-Bass zu spielen. Oder soll hier angedeutet werden, dass Musikgruppen sich auf Bestreben der Labels zusammenfinden und sozusagen „gecastet“ werden? Anderweitig lässt es sich mir zumindest nicht erklären, wie man diesen Zusammenhang herstellen kann. Sicherlich gibt es den stereotypen Fall der gecasteten Boy- oder Girlgroup. Die Mehrheit von Bands findet sich jedoch sehr oft vor dem Angebot eines Vertrags durch ein Label zusammen und ist bis zu diesem Zeitpunkt schon eine lange Zeit nicht-professionell aktiv.

Diese abstruse Mischung aus verdrehten Kausalitäten und anekdotischen Erzählungen setzt sich munter fort:

Eine Frau, die in ihrem Leben schon auf vielen Bühnen gestanden ist, ist Salome Buser. Sie spielt Bass in der Schweizer Bluesband Stiller Has. „Mir passiert es öfter, dass ich an meinen eigenen Konzerten nicht in den Backstage-Bereich gelassen werde, weil man mir nicht glaubt, dass ich zur Band gehöre“, erzählt sie. „Man sagt mir dann, ich sei doch nur ein Groupie, das reiche halt nicht, um hinter die Bühne zu kommen.“

[…]

Buser fügt an: „Vielleicht liegt es daran, dass generell weniger Instrumentalistinnen auf der Bühne stehen und wir deshalb nicht so stark als Musikerinnen wahrgenommen werden. Sondern in erster Linie als Frauen, die sich zuerst einmal beweisen müssen.“

Ein Abschnitt ließ mich dann doch laut auflachen:

Bleibt einer Musikerin also als einziger Ausweg, ihr Instrument in die Ecke zu stellen und ausschliesslich zu singen, um respektiert zu werden? Dass auch das keine Lösung ist, bestätigt die Schweizer Singer-Songwriterin Sophie Hunger: „Das Musikbusiness in der Schweiz ist sehr männerdominiert. Da hört man schnell mal: Komm Schatz, sing du, ich mach das hier mit den komischen Knöpfen!“

[Hervorhebung nicht im Original]

Ja, genau. Die Rollen in einer Band werden natürlich nach dem Geschlecht verteilt und nicht danach wer welches Instrument spielen kann oder wer eine ausgebildete Gesangsstimme besitzt.

Abschließend führt Frau Suter natürlich den heiligen Gral der Problemlösungen an und dieser lautet: Frauenförderung.

Die Hoffnung stirbt nicht

Eins ist klar: Mit dafür verantwortlich, dass es in der Schweiz weniger bekannte Musikerinnen als Musiker gibt, sind die fehlenden weiblichen Vorbilder. Und weniger Frauen auf den Bühnen bedeutet weniger Nachahmerinnen – ein Teufelskreis. Eine mögliche Lösung des Problems sieht Sibill Urweider in der ausgeglichenen musikalischen Förderung von Mädchen und Buben, um die Chancengleichheit bereits im Kindesalter voranzutreiben.

Schon im Kindesalter? Leider wird nicht näher spezifiziert, ab welchem Alter diese „ausgeglichene musikalische Förderung“ beginnen soll. Gehen wir aber einmal davon aus, dass der hier implizierte Zusammenhang korrekt ist und gesellschaftliche Normen dafür sorgen, dass Mädchen und Jungen schon im Kindesalter eine Vorstellung davon entwickeln, welche Instrumente von Frauen und welche von Männern gespielt werden sollten. Finden wir darüber Informationen in der empirischen Forschung?

Tatsächlich lassen sich Studien auffinden, die bereits in dreijährigen Kindern klare Geschlechterpräferenzen für bestimmte Instrumentengruppen aufzeigen. Die Autoren Marshall und Shibazaki schreiben in ihrem Artikel „Two studies of musical style sensitivity with children in early years“ dazu folgendes:

Results of the study suggested that even three-year-old children were able to make accurate discriminations between musical styles through the use of a broad range of referential criteria and also, we observed that a number of ‘person type’ and gender associations already appeared to be present in the attitudes and experiences of participants.

Und in einer zwei Jahre später erschienenen Studie mit dem Titel „Gender associations for musical instruments in nursery children: the effect of sound and image“ bestätigen die beiden Autoren ihre Ergebnisse. Die drei bis vier Jahre alten Kinder wurden unter zwei Bedingungen getestet: Zuerst wurden ihnen die Instrumente vorgespielt und ein Bild des jeweiligen Instruments gezeigt. In der zweiten  Bedingung bekamen die Kinder nur die Töne des Instruments zu hören.

Our current study explores the gender associations which very young children, many of whom have spent only a few months within the school system, have towards musical sounds and how these attitudes may be affected by the addition of an attendant image.

[…]

However, taken together, the results of this research appear to suggest that some form of association between very young children and the gender of individual instruments and musical styles already appears to exist in the very early stages of their educational life.

[Hervorhebung nicht im Original]

Die Kinder in dieser Studie zeigten nicht nur eine klare Geschlechterpräferenz, wenn sie die entsprechenden Instrumente sehen konnten und vorgespielt bekamen. Wurde den Kindern nur das Instrument vorgespielt, so drehte sich das Bild in die andere Richtung:

2

Eine Beeinflussung der Geschlechterpräferenzen für bestimmte Instrumente durch vorherrschende gesellschaftliche Normen und Geschlechterrollen lässt sich mit diesen Ergebnissen nicht stützen und ist daher (zumindest in diesem jungen Alter) als unwahrscheinlich einzuschätzen. Es sei denn man möchte argumentieren, dass es ein Bestandteil gesellschaftlicher Normen ist, akustische Wahrnehmungen als weiblich und optische Wahrnehmungen als männlich einzustufen.

Zusätzlich schreiben die Autoren:

Most recently, Hallam, Rogers, and Creech (2008) reported that many of the historical patterns of gender-associated instruments were still in evidence with pupils freely opting for the gendered instruments at all stages of education, and Abeles (2009), reflecting on the intervening 30 or so years since his initial studies, concluded that only limited changes had occurred in schools with certain instruments still being strongly associated with one particular gender.

[Hervorhebung nicht im Original]

In einem letzten Test konnten die Kinder dann wählen, für welche Instrumente sie sich selbst entscheiden würden. Hier ergab sich wieder die eindeutige Geschlechterpräferenz, die sich seit Jahrzehnten beobachten lässt.

3

Das junge Alter in dem die Geschlechterpräferenzen auftreten, die Konstanz mit der sich diese Präferenzen seit Jahrzehnten trotz gesellschaftlicher Veränderungen halten und die unterschiedlichen Rollenzuschreibungen bei entweder ausschließlich akustischen Reizen oder einer Kombination aus optischen und akustischen Reizen: Das alles weist auf biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern hin, die einen noch nicht näher bekannten Einfluss auf die Präferenz von Musikinstrumenten haben.

In jeder Publikation, die ich für diesen Artikel gelesen habe, wird erwähnt, dass dieses Phänomen noch viel zu wenig untersucht und daher weitere Forschung anzuraten ist. Umso überraschter war ich jedoch, dass in keiner dieser Publikationen auch nur angedeutet wird, dass die Ursachen dafür in Geschlechtsdimorphismen begründet sein könnten. Dieses Phänomen ist also auch ein Musterbeispiel dafür, wie sich Wissenschaftler der Interdisziplinarität verweigern können und stattdessen lieber weiter im Dunkeln herumfischen, anstatt einen Schritt zurückzugehen um das Gesamtbild zu betrachten.

Oder man macht es einfach wie Frau Suter und die Zeitschrift annabelle. Bietet schließlich auch die simpleren Lösungen.

Laut und dämlich – No Hate Speech.de

Hate Speech (dt. Hassrede). Dieser Begriff geistert bereits seit einigen Jahren durch die angloamerikanische Online- und Offlinesphäre. Bezeichnet wird damit oft ein Spektrum verschiedenartiger, als grenzüberschreitend wahrgenommener, verbaler Äußerungen. Die Breite dieses Spektrums reicht von gezielten Belästigungen von Einzelpersonen, bis hin zum Trollen (über dessen „Gefahr“ sich sicherlich ausgiebig streiten lässt) und vollkommen legitimer, aber unerwünschter Kritik. Auffallend hierbei: Auf eine eindeutige Definition wird (vermutlich bewusst) verzichtet. Ein nicht zu vernachlässigender Punkt, denn schließlich kann der Vorwurf der Verwendung von Hate Speech im schlimmsten Fall vor Gericht enden.

Und wie fast jeder neue, hippe „Trend“ schwappt natürlich auch die No Hate Speech-Bewegung über den großen Teich nach Europa. Die Akteure innerhalb dieser Bewegung haben jedoch den Vorteil, dass sie aus den Fehlern ihrer amerikanischen Kollegen und Kolleginnen lernen können. Denn während sich in den USA ein massiver Widerstand gegen diese offen zur Schau gestellte Bevormundung bilden konnte, verläuft der Prozess in Deutschland und anderen europäischen Staaten deutlich subtiler. Anstatt öffentlich auf die Barrikaden zu gehen und laut mit dem digitalen oder analogen Megaphon die eigene Überzeugung und den Wunsch für eine Schere im Kopf herauszuposaunen, wird hierzulande der Weg über die staatlichen Institutionen gegangen. Natürlich inklusive staatlicher Förderung und Fürsprache durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

No Hate Speech Movement nennt sich also reichlich unkreativ der deutsche/europäische Ableger dieser Kampagne für eine „saubere Sprache“ im Netz. Wie schon erwähnt finden sich beunruhigend viele Förderer für diese Kampagne auf der Webseite von No Hate Speech.de:

1

Bei dieser „starken“ Unterstützung sollte man doch zumindest erwarten können, dass man einen konkreten Plan dafür hat, was man denn eigentlich mit einer solchen Kampagne erreichen möchte. Startpunkt dafür wäre, dass man zuerst einmal klar definiert, was denn eigentlich Hate Speech ist und anschließend belegt, dass diese negative Auswirkungen besitzt und in einer so signifikanten Häufigkeit vorkommt, dass damit eine Aufklärungs- und Präventionskampagne gerechtfertigt ist.

Beginnen wir ganz vorne: Was ist eigentlich Hate Speech bzw. wie ist diese definiert? No Hate Speech hat dafür folgende Erklärung parat:

Definitionen von Hate Speech

Es gibt keine einheitliche Definition von Hate Speech, weder in Deutschland noch international. Im Gesetzbuch wird Hate Speech (noch) nicht spezifisch erwähnt – verurteilt werden Beleidigungen oder Volksverhetzung. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass online haten erlaubt ist…, falls jemand auf die Idee käme.

Oh. Keine einheitliche Definition also. Na das kann ja heiter werden.

Es folgen zwei Verweise. Zum einen auf die Definition von Hate Speech durch den Europarat, welche breiter und schwammiger nicht sein könnte:

Hate speech for the purpose of the Recommendation entails the use of one or more particular forms of expression –namely, the advocacy, promotion or incitement  of  the  denigration,  hatred  or  vilification  of  a  person  or  group  of persons, as well    any harassment, insult, negative stereotyping, stigmatization or threat of such person or persons and any justification of all these  forms of  expression –that  is  based  on  a  non-exhaustive  list  of personal  characteristics  or  status  that  includes  “race”,  colour,  language, religion  or  belief,  nationality  or  national  or  ethnic  origin,  as  well  as  descent, age, disability, sex, gender, gender identity and sexual orientation.

Also quasi alles was in irgendeiner Weise negativ oder als beleidigend aufgefasst werden könnte.

Zum anderen folgt ein Verweis auf die Amadeu Antonio Stiftung. Diese versucht den Begriff Hate Speech aus „politischer und sprachwissenschaftlicher Sicht zu beschreiben“ sowie die „rechtliche Einordnung des Begriffs Hate Speech zu erklären“. Wer sich diese „Versuche“ antun möchte, der kann diese hier und hier nachlesen. Anstatt jedoch eine klare Definition für Hate Speech zu liefern, werden hier nur noch mehr Variablen in die Bewertung von sprachlichen Äußerungen integriert. So ist es z.B. vermeintlich relevant, ob die Äußerungen von privilegierten oder nicht-privilegierten Personen stammen:

Was Hate Speech ist, ist umstritten

Dass es innerhalb einer Sprachgemeinschaft unterschiedliche Meinungen darüber geben kann, ob ein bestimmter Ausdruck als Hassrede gilt oder nicht, ist selbst dort nicht überraschend, wo alle Beteiligten aufrichtig Position beziehen: Mitglieder einer privilegierten Gruppe empfinden einen sprachlichen Ausdruck häufig deshalb nicht als herabwürdigend/ verunglimpfend, weil er sich nicht gegen sie, sondern eben gegen eine (möglicherweise sogar unbewusst) als von der angenommenen Norm abweichende Gruppe richtet. […]

Inwieweit die „Privilegien“ einer Person bestimmt werden können und inwiefern diese in einem anonymen Online-Meinungsaustausch überhaupt von den Beteiligten erkannt werden können, bleibt natürlich offen.

Wir können also feststellen: Eine Definition von Hate Speech findet bisher nicht statt. Damit wird eigentlich auch alles weitere obsolet, aber lassen wir uns doch den Spaß nicht nehmen und schauen uns einmal die „Daten“ an, mit denen No Hate Speech zeigen möchte, dass Hassrede ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt gegen das Stellung bezogen werden muss.

Wie groß ist das Problem eigentlich?

Es ist schwierig, das genau zu sagen. Denn Hate Speech hat viele verschiedene Facetten und nicht alles kann dokumentiert werden. Drei ausgewählte Beispiele zeigen, wie häufig Hasskommentare sind und wer davon betroffen ist.

2015 hat der Europarat (Abteilung Jugend) eine Online-Meinungsumfrage gemacht: 83% der Befragten gaben an, dass sie online Erfahrungen mit Hate Speech gemacht haben. LGBTI-Jugendliche, Muslim*innen und Frauen waren die drei Haupt-Zielgruppen der Hasskommentare.

Rechtsextreme nutzen das Internet und Soziale Medien, um ihre Propaganda zu verbreiten und Anhänger*innen für ihre Ideologie zu gewinnen. Jugendschutz.net beobachtet diese Strategie und veröffentlicht die Ergebnisse jährlich im Bericht „Rechtsextremismus online“.

Die britische Zeitung The Guardian hat 70 Millionen Kommentare untersuchen lassen, die seit 2006 auf ihrer Website hinterlassen wurden. Das Ergebnis: Von den zehn am stärksten von Hate Speech betroffenen Autor*innen waren acht Frauen und nur zwei Männer, sie sind beide schwarz.

Erneutes Abwiegeln. Man kann das ja alles nicht so genau sagen. Dann folgen drei Beispiele, die jedoch nicht das intendierte Ergebnis zur Folge haben, sondern eher die Frage in den Raum stellen, ob man denn nichts Handfestes zum Vorzeigen hat.

Auf das Thema „Rechtsextreme“ möchte ich nicht weiter eingehen, da es hier meiner Meinung nach vollkommen gerechtfertigt ist eine Beobachtung potenzieller, volksverhetzender Aussagen vorzunehmen und diese an die entsprechenden staatlichen Organe weiterzuleiten. Warum hier jedoch „Rechtsextreme“ Äußerungen mit anderen unerwünschten Aussagen unter dem Schirm der Hate Speech zusammengefasst und gleichgesetzt werden, bleibt unklar, lässt aber tief blicken.

Auf die „Untersuchung“ des Guardian  möchte ich ebenfalls nur kurz eingehen: Die Methodik, mit der die 70 Millionen Kommentare ausgewertet wurden, ist grundsätzlich fehlerhaft. Das lässt sich aus folgendem Zitat aus der Methodenerklärung des Guardian zur Untersuchung entnehmen:

In our analysis we took blocked comments as an indicator of abuse and/or disruption. Although mistakes sometimes happen in decisions to block or not block, we felt the data set was large enough to give us confidence in the findings.

Wie unter anderem vielfach in den Kommentaren unterhalb des Artikels erwähnt wird, ist diese Form der Datenerhebung unzulässig, da die Moderatoren keinen objektiven Blockkriterien folgten, sondern „aus dem Bauch heraus“ entschieden, ob ein Kommentar zulässig oder unzulässig ist. Zusätzlich gibt es unzählige Beschwerden darüber, dass Kommentare geblockt wurden, die in keiner Weise „abusive“ oder „disruptive“ waren und ausschließlich legitime Kritik enthielten. Für einen potenziellen Bias der Moderatoren wurde also nicht kontrolliert und aus diesem Grund ist auch die gewaltige Datengrundlage von 70 Millionen Kommentaren unbrauchbar.

Kommen wir also zur Online-Meinungsumfrage des Europarats: Was hier zusammengetragen wird kann man eigentlich nur als einen schlechten Witz bezeichnen. Zum einen sind online durchgeführte Umfragen in der Mehrheit der Fälle als qualitativ sehr schlecht einzuschätzen, da keine Kontrolle darüber existiert ob die Befragten auch wirklich nur einmal teilgenommen haben und ob die Antworten der Teilnehmer überhaupt als authentisch eingeschätzt werden können. Zum anderen haben Online-Umfragen noch stärker mit dem sogenannten Selbstselektions-Bias zu kämpfen, als z.B. Telefonumfragen oder persönliche Gespräche mit einem Interviewer. Es gibt keine Kontrolle darüber, wer  überhaupt an der Umfrage teilnimmt und somit kann die Stichprobe nicht als Zufallsstichprobe angesehen werden. Dass die Auswahl der Stichprobe zufällig erfolgt, ist aber eines der wichtigsten Gütekriterien bei der Einschätzung darüber, ob es sich um eine repräsentative Umfrage handelt. Ein kurzer Blick auf die deskriptiven Daten der Stichprobe zeigt: Junge (d.h. unter 30 Jahren), weibliche Studenten sind massiv überrepräsentiert.

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(Ich entschuldige mich für die schlechte Qualität der Abbildungen. Leider gibt die Quelle nicht mehr her.)

Die Daten sind also als nicht-repräsentativ für die Gesamtbevölkerung einzuschätzen und die Aussagekraft der Umfrage sinkt somit gegen Null. Witzig jedoch: Auf die Frage, ob die Teilnehmer der Umfrage sich durch Online Hate Speech jemals bedroht oder angegriffen/beleidigt gefühlt haben, antwortet die Mehrheit (63,5%) mit „Nein“.

Im Zusammenhang mit dieser Umfrage möchte ich auch noch auf den Blogartikel von stefanolix verweisen, der sich mit einer ähnlichen Umfrage aus dem Jahr 2012 beschäftigt hat und vergleichbare Probleme bei der Stichprobe findet.

Der Berg voller Bullshit wächst und wächst, und hier noch tiefer zu graben würde vermutlich einem kompletten Verfall zum Wahn gleichkommen. Aber es ist wie ein Motorradunfall: Man kann nicht wegschauen, so sehr man es auch möchte. Weiter geht es also auf der Webseite von No Hate Speech:

Was ist Cybermobbing?

Cybermobbing findet nicht auf dem Schulhof, sondern im Internet statt. Allerdings sind die Opfer nicht nur Schüler*innen, sondern ganz allgemein gesagt: User*innen, die über längere Zeit belästigt, beleidigt, bedroht oder bloßgestellt werden. Wer von Cybermobbing betroffen ist oder mitbekommt, dass jemand gemobbt wird, kann sich wehren oder Betroffene unterstützen. Der „klicksafe-Tipp“ erklärt Schritt für Schritt wie.

Das „Bündnis gegen Cybermobbing“ hat in einer Studie herausgefunden, dass mittlerweile immer mehr Erwachsene im Netz gemobbt werden, meistens übrigens Frauen.

Aus unerklärlichen Gründen führt man auf dem Abschnitt „Wissen“ der No Hate Speech Webseite zusätzlich auch noch den Begriff des Cybermobbing ein. Inwieweit ein Zusammenhang zwischen Online Hate Speech und Cybermobbing besteht, bleibt jedoch ebenfalls unklar. Aber netterweise wird auf eine Studie des „Bündnis gegen Cybermobbing“ verwiesen, mit dem Zusatz, dass eines der Ergebnisse dieser Studie besagt, dass immer mehr erwachsene Frauen im Netz gemobbt werden, d.h. von Cybermobbing betroffen sind. Schauen wir uns dafür doch einmal Abbildung 5 aus der besagten Studie an:

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Interessant ist hier vor allem, dass sich die Studie nicht nur mit Cybermobbing befasst, sondern auch gleichzeitig Daten über das Vorkommen von Mobbing erhebt. Die relativen Anteile der Betroffenen geben bereits erste Hinweise darauf, was die Gründe dafür sein könnten. War den Autoren bereits vorher klar, dass nur ein extrem geringer Anteil der Befragten überhaupt von Cybermobbing betroffen ist?

Aber zurück zu den Daten: 7,6% der männlichen Befragten und 8,3% der weiblichen Befragten sind betroffen. Eine Frage die sich mir hier sofort stellt ist: Haben die Autoren der Studie schon einmal etwas von Inferenzstatistik gehört? Warum wird hier nicht einmal der Versuch unternommen mit statistischen Messverfahren zu untersuchen, ob die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (Männer vs. Frauen) nicht nur zufällig durch die Wahl der Stichprobe entstanden sind? Vielleicht wenigstens einmal einen t-Test anwenden? Das wäre wohl zu viel verlangt.

No Hate Speech zieht also die Frauenkarte, obwohl diese Aussage nicht von den Daten der Studie gestützt wird. Ganz im Gegenteil: Die Verteilung der „Rollen“ ist zwischen den Geschlechtern sogar sehr ausgeglichen.

Gehen wir aber noch einmal einen weiteren Schritt zurück an den Anfang der Studie, dort wo wir auf die Wurzel allen Übels stoßen. Die Stichprobe ist (mal wieder) kompletter Murks:

Die  vorliegende  Studie  wurde  als  standardisierte  Onlinebefragung  konzipiert. Die  Erhebung erfolgte  in  der  Zeit  vom  11.  bis  24.  November  2013.  Die Grundgesamtheit  umfasste  alle Personen  in  der  Bundesrepublik  Deutschland,  die 18  Jahre  oder  älter  waren.  An  der  Erhebung beteiligten  sich  brutto 8.915 Personen.  Diese  Stichprobe  wurde  um  nicht  vollständig ausgefüllte Fragebögen und  nicht  plausible  Datensätze  bereinigt,  so  dass  sich  eine  Netto-Stichprobe  von 6.296 Fällen  ergibt.

Die  Stichprobe  verteilt  sich  fast  analog  zur  tatsächlichen  Bevölkerungsverteilung  auf  die  16 Bundesländer  bzw.  Stadtstaaten  (vgl.  Abb.  1). […] Die  Stichprobe  kann  daher  als  spezifisch  repräsentativ  bezeichnet  werden.  Die  Hälfte  der Stichprobe  weist  den  beruflichen  Status  eines  Angestellten  auf,  die  nächstgrößte  Gruppe sind Schüler, Studenten oder Personen in der Ausbildung (13%).

[Hervorhebung nicht im Original]

Die Stichprobe ist also spezifisch repräsentativ, weil die Verteilung der Stichprobe fast der tatsächlichen Bevölkerungsverteilung auf die Bundesländer gleicht? Da die Autoren nicht wirklich viel über die Verteilung des Vorkommens von Mobbing und Cybermobbing wissen können, muss eine Zufallsstichprobe gezogen werden um Repräsentativität zu gewährleisten. Der Verweis auf eine merkmalsspezifische Repräsentativität der Stichprobe ist nichts weiter als ein sprachlicher Trick um den Anschein einer höher-qualitativen Stichprobe zu erzeugen. Die Autoren konnten weder dafür kontrollieren, dass die Angaben der Befragten korrekt sind, noch ob es einen Selbstselektions-Bias gab. Studenten und Auszubildende sind erneut deutlich überrepräsentiert, während Arbeiter und Selbstständige deutlich unterrepräsentiert sind.

Gleiches gilt für die Altersverteilung und die Geschlechterverteilung:

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In der Stichprobe sind junge Frauen deutlich überrepräsentiert. Insgesamt lässt sich also der verwendeten Stichprobe keine Repräsentativität attestieren.

Es wird auch langsam klar warum eine Vermengung der zwei Begrifflichkeiten Mobbing und Cybermobbing vorgenommen wurde. Die Autoren schreiben in ihrem Fazit:

Die Ergebnisse sind erschreckend: Fast 30% geben an, schon einmal in irgendeiner Form Opfer von Mobbing oder Cybermobbing geworden zu sein.

Offenbar entsprachen die Daten über Cybermobbing nicht den Vorstellungen der Autoren. Hier musste also nachgeholfen werden, um die Gefährlichkeit und die Häufigkeit des Cybermobbing künstlich aufzublähen. Schließlich klingen 8% nicht ganz so eindrucksvoll wie 30%. Eine Taktik, die ich auf meinem Blog nicht zum ersten Mal aufgedeckt habe.

Fazit: Alles was nötig wäre um die Kampagne von No Hate Speech zu rechtfertigen fällt also bereits am Startblock flach auf den Boden. Weder wird der Begriff Hate Speech klar definiert, noch werden aussagekräftige, empirische Daten vorgebracht, welche die Gefährlichkeit und Häufigkeit von Hate Speech belegen könnten. Im Fall der Studie über Cybermobbing muss der Sachverhalt des Mobbing herangezogen werden, um das Vorkommen des Cybermobbing nach oben zu schrauben. Letztendlich versucht man sich mit dem Verweis auf scheinbar wissenschaftliche Studien selbst den Anschein von Wissenschaftlichkeit und Legitimation zu verleihen. Dieses Vorgehen ist unlauter und beschämend für die Verantwortlichen von No Hate Speech; und noch mehr für die staatlichen Förderer. Was diese aber vermutlich nicht sonderlich stört und damit den verabscheuungswürdigen Hintergrund der Kampagne No Hate Speech noch deutlicher offenbart.

Addendum: Christian Schmidt und Lucas Schoppe haben sich ebenfalls der No Hate Speech Kampagne gewidmet. Klare Leseempfehlung!