Doktorant empfiehlt: Robert Sapolsky / In eigener Sache

Für jeden, der sich zumindest ein klein wenig für die biologischen Aspekte von (menschlichen) Verhaltensweisen und -abläufen interessiert, ist die Vorlesungsreihe „Human Behavioral Biology“ von Prof. Robert Sapolsky vermutlich ein Begriff. Aber falls dem nicht so sein sollte, kommt hier meine rettende Empfehlung. Wer sich die komplette Playlist mit 25 Videos anschauen möchte, der muss schon einiges an Sitzfleisch mitbringen. Aufgrund der ruhigen und leicht verständlichen Erklärweise von Robert Sapolsky kann man sich seine Vorlesung aber durchaus auch als eine Art Hörbuch nebenbei zu Gemüte führen, während man sich mit anderen Dingen beschäftigt. Zumindest dann, wenn diese Dinge den Geist nicht allzu sehr anstrengen. Lange Rede, kurzer Sinn, viel Spaß!


In eigener Sache: Aufgrund eines Projektes, welches kurz- bis mittelfristig einen großen Anteil meiner Aufmerksamkeit und Zeit einfordern wird (und nicht zu vergessen der aktuell allgemeinen Urlaubsstimmung), werde ich meine Inhalte auf diesem Blog von derzeit 3 mal die Woche (Montag, Mittwoch, Freitag) auf vorerst 1 mal die Woche reduzieren. Sobald sich meine zeitliche Situation wieder normalisiert hat, wird sich auch die Anzahl meiner Posts wieder erhöhen.

Im selben Atemzug möchte ich auch gleich noch einmal meinen Twitter-Account erwähnen: @DerDoktorant. Wer gerne darüber auf dem Laufenden bleiben möchte was ich dort tagtäglich so treibe, dem sei ein kurzer Klick auf den Follow-Button empfohlen. Vielen Dank im Voraus und ich wünsche schon einmal vorab ein angenehmes Wochenende!

Worte = Taten (oder auch „Traue keiner Definition, die du nicht selbst verdreht hast.“)

Der Begriff der „Hassrede“ (engl. hate speech) ist derzeit vor allem in deutschen Medien sehr präsent. Nachdem erst vor kurzem das BKA deutschlandweit 60 Hausdurchsuchungen im Zusammenhang mit sogenannten „Hasskommentaren“ (oder auch „Verbalradikalismus“) durchgeführt hat, Justizminister Heiko Mass Facebook dazu zwingen möchte nicht genehme Kommentare zu löschen und die Amadeu Antonio Stiftung an den Grundlagen für eine Stasi 2.0 arbeitet, stellt sich mir die Frage, woher dieser Begriff hate speech eigentlich kommt und was die Wissenschaft dazu zusagen hat. Die Bezeichnung „Wissenschaft“ verwende ich hier (wie leider so oft) als eine sehr vorsichtige Umschreibung dessen, was einem beim Blick in folgendes Paper erwartet:

Heterosexuals‘ Attitudes Toward Hate Crimes and Hate Speech Against Gays and Lesbians

Modern racism and sexism have been studied to examine the different ways that prejudice can be expressed; yet, little attention has been given to modern heterosexism. This study examined the extent to which modern heterosexism and old-fashioned heterosexism predict acceptance of hate crimes against gays and lesbians and perceptions of hate speech. Male (n= 74) and female (n= 95) heterosexual college students completed a survey consisting of scales that assessed modern and old-fashioned heterosexism, acceptance of violence against gays and lesbians, attitudes toward the harm of hate speech and its offensiveness, and the importance of freedom of speech. Results indicated strong negative relations between both modern and old-fashioned heterosexism and the perceived harm of hate speech. When old-fashioned heterosexism, modern heterosexism, and the importance of freedom of speech were combined to predict hate crime and hate speech attitudes, only old-fashioned heterosexism predicted acceptance of hate crimes. All three predictors contributed to the perception of the harm of hate speech. Gender differences in the role of the importance of freedom of speech in predicting attitudes toward hate crimes and hate speech are noted.

Um kurz zusammenzufassen: Die Autoren postulieren eine Unterscheidung von Heterosexismus (d.h. Sexismus von heterosexuellen Menschen gegenüber homosexuellen Menschen) in einen „altmodischen“ bzw. „traditionellen“ Heterosexismus und einen modernen Heterosexismus.

Diese beiden Begriffe unterscheiden sich, laut den Autoren, wie folgt:

  • Traditioneller Heterosexismus ist eine direkte und öffentliche Zurschaustellung von Meinungen, die eine Ablehnung von Homosexualität und homosexuellen Menschen ausdrücken.
  • Moderner Heterosexismus ist im Gegensatz dazu keine eindeutige und öffentliche Zurschaustellung ablehnender Meinungen, sondern drückt sich in der Befürwortung und Unterstützung von politischen Maßnahmen aus, welche in der Benachteiligung von Minderheiten resultieren.

Hier noch einmal im Wortlaut der Studie:

Old-fashioned heterosexism, or overt sexual prejudice, is a clear expression of negative attitudes toward and  dislike of  gays  and  lesbians,  whereas  modern  heterosexism is  amore subtle type of heterosexism. […]
Old-fashioned heterosexism, like old fashioned racism and sexism may be evolving into a modern form, referred to as symbolic racism (Sears, 1988) or modern racism (McConahay, 1986). Modern racists do not directly express dislike of people of color, and they do not affirm beliefs in the inferiority of minority groups. However, they do support policies that result in disadvantages for minority groups (e.g., elimination of affirmative action, busing). Often, such policies are defended in the guise of support of traditional values. Thus, modern racism is a subtle, indirect way of opposing a group.

Die Autoren möchten nun mit Hilfe mehrerer Befragungen von Studenten (Stichprobe: n = 171; 74 männlich, 95 weiblich; 2 keine Angabe; Durchschnittsalter = 26,72 Jahre) herausfinden, ob ein höherer Wert in der Skala „traditioneller Heterosexismus“ mit einer höheren Akzeptanz von hate crimes und hate speech einhergeht. Parallel dazu erwarten die Autoren, dass ein höherer Wert in der Skala „moderner Heterosexismus“ zwar mit einer höheren Akzeptanz von hate speech, aber nicht von hate crimes einhergeht.

Zusätzlich erfassen die Autoren noch, wie wichtig den Probanden die Meinungsfreiheit ist. Eine höhere Wertschätzung der Meinungsfreiheit soll, laut den Autoren, ebenfalls mit einer höheren Akzeptanz von hate speech einhergehen. In einem finalen Test wurden den Probanden 3 fiktive Szenarien in Textform vorgelegt in welchen Beispiele von hate speech dargestellt wurden. Die Probanden sollen dann bewerten wie beleidigend bzw. gefährlich sie die Szenarien empfinden.

Nach der etwas langen und trockenen Einleitung kommen wir jetzt zum interessanten Part, nämlich den Definitionen von hate crimes und hate speech, welche die Autoren als Grundlage für ihre Studie nehmen:

A hate crime is a criminal act in which the victim was targeted because of the actual or perceived race, color, religion, national origin, ethnicity, gender, disability, or sexual orientation. This may include, but is not limited to, threatening phone calls, hate mail, physical assaults, vandalism,  fires,  and  bombings. […]

In contrast to hate crimes, hate speech is a generic term that has come to embrace the use of speech attacks based on race, ethnicity, religion, and sexual orientation or preference. The expression of hate is not a crime in and of itself. The differences between hate crimes and hate speech  rests  on  the  distinction  between  acts  and  symbols  or  words. Acts, such as assault, battery, vandalism, arson, murder, lynching, and physical harassment, are punishable under our criminal and civil laws. Words, like kike, faggot, nigger, spic, pictures–such as those in pornography depicting women as degraded or abused for sexual pleasure–and symbols are protected by courts as acts of individual expression.

Die Autoren ziehen hier also eine klare Grenze zwischen Handlungen (d.h. hate crimes) und Sprache (d.h. hate speech). Es ist natürlich grundsätzlich schwierig, wenn man sich auf einen theoretischen Bezugsrahmen stützt, zu dem leider am Ende die erhobenen Daten nicht passen.

Aber ich greife voraus. Bevor wir zum überwältigenden Doppeldenk der Autoren in der Interpretation der Daten kommen, müssen wir uns zuerst anschauen, was die fünf Damen denn so herausgefunden haben:

Table1

Die deskriptive Statistik ist schnell erklärt. Die gesamte Stichprobe pendelte sich bei 5 der 7 Variablen in der Mitte der Skalen ein. Nur bei „Offensivesness“ und „Harmfulness“ der 3 Szenarien war die gesamte Stichprobe näher am Maximum der Skalen, d.h. die Probanden schätzten die Szenarien als sehr beleidigend und gefährlich ein.

Zwischen den Geschlechtern gab es ebenfalls Unterschiede. Männer tendierten zu höheren Werten bei den ersten 5 Variablen und zu geringeren Werten bei „Offensiveness“ und „Harmfulness“ der Szenarien. Bei den Frauen war es genau umgekehrt.

Um die Zusammenhänge zwischen den Variablen zu analysieren, haben die Autoren anschließend die Interkorrelationen zwischen den Variablen berechnet und Regressionsanalysen durchgeführt.

Da ich die starke Vermutung habe, dass sich die Daten vermutlich sowieso niemand im Detail anschauen wird, hier nur der Vollständigkeit halber:

Table2

Table3Was soll uns das jetzt also alles sagen? Die Autoren beschreiben das selbst in der  Diskussion ihrer Studie so:

When old-fashioned and modern heterosexism were combined with importance of freedom of speech to predict approval of hate crimes and the harm of hate speech, a different pattern emerged. Controlling for old-fashioned heterosexism, modern heterosexism did not contribute a unique effect for approval of hate crimes or responses to the scenarios. Thus, though modern heterosexism predicted both ap- proval of hate crimes and minimization of the harm and offensiveness of hate speech as described in explicit scenarios, these relations are attributable to modern   heterosexism’s overlap with old-fashioned heterosexism. However, modern heterosexism did sustain an independent contribution to the perceived harm of hate speech.

Die anfängliche Einteilung in traditionellen und modernen Heterosexismus geht also voll nach hinten los. Diese beiden Formen des Sexismus treten nicht parallel auf. Stattdessen besteht eine große Überlappung zwischen modernem und traditionellem Heterosexismus. Personen die modernen Heterosexismus zeigen, zeigen also auch traditionellen Heterosexismus. Es liegt die Vermutung nahe, dass Sexisten ihren Sexismus in der heutigen Zeit einfach besser tarnen, anstatt dass es eine neue Form des unterschwelligen Sexismus gibt, der jetzt von einer breiten Öffentlichkeit geteilt wird.

Aber anstatt dass die Autoren anerkennen, dass die Prämissen ihrer Studie Fehler aufweisen, beginnen sie jetzt damit sich ihre Ergebnisse schön zu reden.

The question arises as to why modern heterosexism predicted the perceived harm of hate speech more strongly than the offensiveness and harmfulness of the speech in the scenarios, as demonstrated by the independent effect of modern heterosexism in the regressions on harm of hate speech but not on responses to the scenarios. Because the scenarios are specific and strong instances of hate speech (and instances that have actually been reported), modern heterosexism may contribute to hate speech only when the issue is phrased in the abstract. When the egregious behavior is explicitly described, it may only be the more overt type of heterosexism that becomes engaged in responses to hate speech. However, it is not that the participants regarded the speech as hate crimes because freedom of speech predicted responses to the harm of hate speech and the responses of the scenarios and did not predict approval of hate crimes. (Hervorhebung nicht im Original)

Ah ja. Moderner Heterosexismus offenbart sich also nur dann, wenn hate speech in einer abstrakten Form(?) und nicht in einem realen Szenario dargeboten wird. Völlig nachvollziehbar.

Does this mean that modern heterosexism is innocuous because it is only related to the perceived harm of hate speech abstractly stated and not to responses to the scenarios and approval of hate crimes? No, and for several reasons. First, there was a strong intercorrelation between old-fashioned and modern heterosexism. When modern heterosexism is expressed it is possible that it has become old-fashioned heterosexism or sexual prejudice gone underground. Secondly, speech and acts are inseparable and the line between speech and acts is arbitrarily drawn. […] (Hervorhebung nicht im Original)

Was. Zur. Hölle. Die Grenze zwischen Sprache und Handlungen ist willkürlich?

Wie war das doch gleich am Beginn der Studie?

The differences between hate crimes and hate speech rests on the distinction between acts and symbols or words.

Jetzt wird vor allem eine Sache glasklar: Für die Autoren gibt es keinen Unterschied zwischen Worten und Taten. Ein verbaler „Angriff“ ist gleichbedeutend mit einem physischen Angriff. Den fünf Damen schmeckt es daher offensichtlich überhaupt nicht, dass es in den USA einen sehr starken Schutz der Meinungsfreiheit gibt und hier würde man sich vermutlich am liebsten eine Änderung des First Amendments der Verfassung der Vereinigten Staaten wünschen.

Dabei erkennen die Autoren am Ende sogar an, dass das Wertschätzen der Freedom of Speech keinen Zusammenhang mit der Akzeptanz von hate speech hat.

However, freedom of speech was not the mechanism by which modern heterosexists justified tolerance of hate speech of gays and lesbians. Freedom of speech was an independent predictor and controlling for freedom of speech did not reduce the effect of modern heterosexism on the harm of hate speech.

Erneut zeigt sich, dass Schlagworte wie hate speech auf einem sehr wackeligen, „akademischen“ Fundament gebaut sind. Wenn es den Autoren nicht passt, dann wird einfach die Definition von hate speech angezweifelt und umgedeutet, um dann die erhobenen empirischen Daten ins rechte Licht zu rücken.

Schlimmer ist jedoch, dass aus jeder geschriebenen Zeile die Unzufriedenheit darüber trieft, dass Worte und Taten nicht einfach mal eben gleichgesetzt werden können. Wenn das die Attitüde ist, aus der sich auch die aktuellen Bestrebungen in Deutschland und Europa speisen, dann können wir uns ja für die kommenden Wochen und Monate schon einmal warm anziehen. #amadeuantoniofilme

Die deutsche Rape Culture

Ausgehend von meinem letzten Artikel über das kritische Denken habe ich mir einmal den feministischen Fachbegriff der Rape Culture vorgenommen. Passend dazu analysiere ich die Validität der vorgebrachten Argumentation des Blogs Pinkstinks, dessen Autoren behaupten, dass in Deutschland eine Rape Culture existiert. Ist das wirklich so oder wird erneut gezeigt, dass ein korrekter Nachweis der eigenen Behauptungen als irrelevant betrachtet wird? Viel Spaß!

Kritisches Denken 101: Induktion und Deduktion

Die tagtägliche Konfrontation mit Artikeln und Kolumnen, welche nicht einmal die Mindeststandards der Logik und Vernunft erreichen – sei es von professionellen Journalisten oder Amateuren, die in ihrer Freizeit bloggen – lässt mich immer wieder ratlos zurück. Oftmals kann ich einen Text nicht mehr lesen ohne dabei innerlich die begangenen logischen und/oder argumentativen Fehlschlüsse mitzuzählen.

Zwei Fragen kommen mir dabei immer wieder in den Sinn: Fehlt den Autoren dieser Artikel die kritische Denkfähigkeit? Oder wird bewusst auf eine korrekte Argumentationsführung verzichtet, wenn es der eigenen Narrative nicht zuträglich ist?

Sollte letzteres zutreffen, lässt sich daran vermutlich nicht viel ändern. Außer die eigene Skepsis zu schärfen, versteht sich. In Anbetracht der ersten Möglichkeit möchte ich hier eine kurze Grundlage für die Anwendung des kritischen Denkens darlegen und mich dabei konkret auf die Schlussverfahren der Induktion und Deduktion beziehen.

Doch bevor wir dazu kommen: Was ist kritisches Denken?

Eine längere Definition findet sich hier. Kurz zusammengefasst beschreibt kritisches Denken die Orientierung und Ausrichtung des eigenen Denkens nach den methodischen Kriterien der Wissenschaft. Sich mit den Kriterien der Wahrheitsfindung, wie sie in der Wissenschaft angewendet werden, auseinanderzusetzen, ist vor allem für Laien eine große Hilfe bei der Beurteilung von Behauptungen und dem Erkennen von Scheinargumenten. Zusätzlich ist die Fähigkeit des kritischen Denkens ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum mündigen Bürger.

Man muss aber nicht reihenweise Bücher oder wissenschaftliche Publikationen wälzen, um den Prozess der kritischen Denkfähigkeit anwenden zu können. Stattdessen reicht es, sich mit ein paar der Grundprinzipien vertraut zu machen. Eines davon sind die beiden Schlussverfahren der Induktion und Deduktion.

Eine Erklärung beider Begriffe: Bei der Induktion schließen wir vom Einzelnen auf das Allgemeine. Konkret bedeutet das, dass man aus einzelnen, empirischen Beobachtungen auf eine allgemeine Theorie oder eine Gesetzmäßigkeit schließt. Wir nehmen also eine Verallgemeinerung vor bei der nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie korrekt ist (siehe auch probabilistisches Schließen). Die vorgebrachten Prämissen müssen also nicht zwangsläufig in einer korrekten Konklusion resultieren. Durch Induktion erlangte Theorien oder Gesetzmäßigkeiten sind dennoch ein erster wichtiger Schritt bei der Wahrheitsfindung.

Ein Beispiel, welches gerne für die Illustration des induktiven Schlussverfahrens verwendet wird:

Prämisse = Alle bisher beobachteten Vögel können fliegen. [Empirische Einzelbeobachtungen]

Konklusion = Alle Vögel können fliegen. [Aufgestellte Gesetzmäßigkeit]

Solange wir keinen Vogel finden der nicht fliegen kann, ist diese Argumentation korrekt. Und je mehr flugfähige Vögel wir bisher gefunden haben, desto wahrscheinlicher ist es, dass unsere Verallgemeinerung ebenfalls korrekt ist.

Es wäre aber ein Fehler an dieser Stelle mit der Wahrheitsfindung aufzuhören. Daher muss im nächsten Schritt die Deduktion erfolgen: Bei der Deduktion schließen wir vom Allgemeinen auf das Einzelne. Eine zuvor aufgestellte allgemeine Theorie oder Gesetzmäßigkeit muss überprüft werden, in dem die Vorhersagekraft dieser Theorie genutzt wird um eine Prognose aufzustellen. Anschließend kann man eine aufgestellte Gesetzmäßigkeit bzw. Verallgemeinerung mit einzelnen, empirischen Beobachtungen entweder validieren oder falsifizieren. Ein wichtiger Unterschied zur Induktion besteht darin, dass es bei der Deduktion keine Wahrscheinlichkeit dafür gibt, ob eine Konklusion korrekt ist oder nicht. Wenn die Prämissen korrekt sind, dann muss zwangsläufig auch die Konklusion korrekt sein, und vice versa.

Um mit unserem Beispiel fortzufahren:

Prämisse = Alle Vögel können fliegen. [Aufgestellte Gesetzmäßigkeit]

Konklusion/Prognose = Der Strauß ist ein Vogel und kann daher fliegen.

Empirische Einzelbeobachtung: Der Strauß kann nicht fliegen.

Durch die empirische Beobachtung stellen wir fest, dass der Strauß zwar ein Vogel ist, aber nicht fliegen kann. Die aus der Prämisse abgeleitete Konklusion ist daher nicht korrekt, wodurch automatisch auch die zuvor aufgestellte Gesetzmäßigkeit nicht korrekt ist und verworfen werden muss. Auf Basis der neuen empirischen Daten können wir jetzt wieder mit der Induktion beginnen und eine neue Gesetzmäßigkeit aufstellen, die dann wiederum geprüft werden muss. Wäre der Strauß ein flugfähiger Vogel, so hätte diese Einzelbeobachtung unsere Gesetzmäßigkeit verifiziert. Wichtig hierbei jedoch: Eine Theorie oder ein Gesetz kann niemals abschließend als wahr befunden werden, da in der Praxis nicht jede mögliche Einzelbeobachtung vorgenommen werden kann. Es kann nur mit jeder Verifikation oder ausbleibenden Falsifikation eine stärkere Annäherung an die Wahrheit erreicht werden.

Hier noch einmal eine Abbildung der beiden Schlussverfahren und ihrer Anwendung:

DeduktionInduktion

Das Grundprinzip von Induktion und Deduktion ist einfach zu verstehen, so lange die gewählten Prämissen und Konklusionen simpel und offensichtlich sind. Wie alles im Leben, sind aber die präsentierten Prämissen und Konklusionen in der Praxis selten einfach, sondern in den meisten Fällen komplex und zusätzlich mit weiteren Prämissen und Konklusionen verschachtelt.

Ein grundsätzliches Problem, welches mir regelmäßig auffällt, ist, dass die Vertreter der am Anfang dieses Textes erwähnten Artikel und Kolumnen nur das induktive Schlussverfahren anwenden und dann aufhören. Einzelbeobachtungen werden aufgezählt und am Ende des Artikels steht eine verallgemeinerte Aussage über den Zustand der Welt. Eine Prüfung erfolgt jedoch nicht. Es ist also dem Leser überlassen, eine Verifikation oder Falsifikation durchzuführen. Oder die Autoren erwarten, dass man ihnen einfach Glauben schenkt.

Ein schönes Beispiel – und Auslöser dafür, dass ich diesen Post verfasse – ist folgender Artikel des Independent mit dem Titel „Sites like Uni Lad only act to support our everyday rape culture“. Dort findet sich mehrfach die unzureichende Anwendung der beiden Schlussverfahren. Ein Textauszug:

When I use the term ‘rape culture’, I don’t mean to exaggerate or sensationalise. I am not referring to isolated incidents, but to a widespread trend towards articles, websites and events that sexualise, objectify and dehumanise female students and women in general. I am talking about entire websites where across hundreds of articles about women not a single female name appears; they are replaced with “wenches”, “hoes”, “clunge”, “skank”, “sloppy seconds”, “pussy”, “tramp”, “chick”, “bird”, “milf”, “slut” and “gash”. They are part of a growing culture in which the sexual targeting of female students as “prey” is actively encouraged, even when it verges on rape and sexual assault. It is an atmosphere in which victims are silenced and perpetrators encouraged to see crimes as merely ‘banter’ – just part of ‘being a lad’.

Versuchen wir diesen Abschnitt doch einmal nach dem zuvor besprochenen Prinzip aufzuschlüsseln:

Prämisse = Eine nicht näher bestimmte Anzahl an Webseiten und Artikeln bezeichnet Frauen mit herabwürdigenden Begriffen. [Einzelbeobachtungen]

Konklusion 1 = Es gibt einen Trend zu Webseiten, Artikeln und Vorkommnissen, bei denen Frauen sexualisiert, objektifiziert und entwürdigt werden.

Konklusion 2 = Es gibt eine wachsende Kultur, in der dazu ermutigt wird Frauen als „sexuelle Beute“ ins Visier zu nehmen.

Konklusion 3 = Es wird ein Klima erschaffen, in dem Opfer mundtot gemacht und Täter ermutigt werden ihre Verbrechen als Scherze anzusehen; als etwas was Kerle eben machen.

Aus einer Prämisse werden also drei verallgemeinerte Aussagen über den Zustand der Welt bzw. das „kulturelle Klima“ in Großbritannien abgeleitet. Diese induktiven Schlüsse können anschließend vom Leser anhand der Wahrscheinlichkeit der Korrektheit ihrer Konklusionen bewertet werden (vgl. Vertretbarkeit von Argumenten).

Wo aber bleibt die Überprüfung der Konklusionen in einem deduktiven Schlussverfahren durch die Autorin? Und welchen Wert haben die aufgestellten Verallgemeinerungen, wenn diese Überprüfung ausbleibt?

Es ist wichtig sich klar zu machen, dass es sich hierbei nicht nur um die Äußerung einer Meinung handelt. Die Autorin des Artikels macht eine faktische Aussage, welche entweder bestätigt oder widerlegt werden kann. Diese Aufgabe wird aber dem kritischen Leser selbst überlassen, während der naive Leser die ausschließlich durch Induktion erlangte und nicht geprüfte Theorie als bare Münze nimmt.

Ein Zyniker würde jetzt sagen: „Tja, so ist das eben und mehr kann man auch nicht erwarten. Den aufwändigen Weg der Deduktion wird kein professioneller Journalist gehen, geschweige denn ein Amateur auf seinem persönlichen Blog. Vor allem dann nicht, wenn eine korrekte Prüfung der Aussagen die hohe Wahrscheinlichkeit birgt, dass seine komplette Argumentation zusammenbricht.“

Vielleicht ist das so. Vielleicht kann man aber auch mehr verlangen.

Alternativ lässt sich eine persönliche, grundlegende Skepsis gegenüber faktischen Äußerungen entwickeln, wenn deren Autor nicht bereit oder dazu in der Lage ist, die von ihm aufgestellten Verallgemeinerungen in einem deduktiven Schlussverfahren zu prüfen.

Über Meinungen darüber, inwieweit ein solcher Standard für journalistische Inhalte angemessen ist, würde ich mich sehr freuen.

Warum wir Feminismus NICHT brauchen

Youtuber freakodelic möchte der Welt erklären, warum wir Feminismus brauchen. Ich war da einer etwas anderen Meinung und habe daher ein kleines Antwortvideo erstellt. Viel Spaß!

Doktorant empfiehlt: Mim Headroom

Mim Headroom. Noch jemand aus der Reihe der unbekannteren Youtube-Kommentatoren. Abonnentenzahlen sagen aber, wie so oft, nichts über die Qualität des Inhalts aus und genau so sieht es auch hier aus. Also Popcorn ausgepackt und auf Play gedrückt: Viel Spaß!

Statistik fälschen leicht gemacht

Nachdem gestern Thomas „The Boss“ Fischer in einem Nachtrag zu seiner Kolumne vom 28.06.2016 erneut den Boden mit „empörten Feministinnen“ aufgewischt hat, ist die am selben Tag erschienene Replik von Frau Stokowski etwas unter dem Radar geflogen. „Das ist doch eigentlich ganz positiv!“, mag jetzt der eine oder andere von sich geben und würde dafür auch zustimmendes Nicken erhalten. Ich möchte mich daher auch gar nicht sonderlich lange mit den Zeilen von Frau Stokowski aufhalten, sondern mich mit einer Studie beschäftigen, die sie in ihrem Artikel verlinkt.

Sie schreibt:

Es geht um eine Reform, die Feministinnen seit Langem fordern, die wegen der Istanbul-Konvention seit Jahren fällig ist und im Grundsatz fraktionsübergreifend befürwortet wird. Rückert findet das verheerend: „Das Intime gerät in Verdacht, das Schlafzimmer wird zum gefährlichen Ort.“ Gefährlich für diejenigen, die potenziell Täter oder Täterin werden könnten. Für potenzielle Opfer hingegen war das Schlafzimmer bisher schon „ein gefährlicher Ort“: Im Jahr 2004 gaben in einer repräsentativen Studie in Deutschland 25 Prozent der Frauen an, körperliche und/oder sexualisierte Gewalt durch den Partner oder Ex-Partner erlebt zu haben. Längst nicht alle zeigen die Taten an. [Hervorhebung nicht im Original]

25% der Frauen, also jede Vierte, hat schon einmal körperliche und/oder sexualisierte Gewalt durch den Partner oder Ex-Partner erlebt? Das klingt ja ungeheuerlich. Und aus dem Grund habe ich mir die Studie Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland einmal etwas genauer angeschaut.

Aus meiner Sicht sind vor allem drei zentrale Fragen relevant: 1. Wie sind körperliche und/oder sexualisierte Gewalt definiert? 2. Mit welcher Methodik wurden die Daten erhoben? 3. Wie setzen sich die besagten 25% aus der Stichprobe zusammen?

1. Die Definition von körperlicher und sexualisierter Gewalt:

Die körperlichen Gewalthandlungen, die im Rahmen der Studie abgefragt wurden, umfas­sen ein breites Spektrum an Gewalthandlungen, von leichten Ohrfeigen und wütendem Wegschubsen über Werfen oder Schlagen mit Gegenständen bis hin zu Verprügeln, Wür­gen und Waffengewalt (vgl. Itemliste 1 im Anhang dieser Broschüre).

[…]

Im Vergleich zu den erfassten Handlungen körperlicher Gewalt bezogen sich die Items zu sexueller Gewalt auf einen engeren Gewaltbegriff, der ausschließlich strafrechtlich relevan­te Formen wie Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung und unterschiedliche Formen von sexueller Nötigung unter Anwendung von körperlichem Zwang oder Drohungen umfasste (vgl. Itemliste 2 im Anhang)

Fair enough, wie der Engländer sagen würde. Auch wenn ich ein ungutes Gefühl bei der Breite des Spektrums an erfassten Gewalthandlungen habe. Leichte Ohrfeigen und wütendes Wegschubsen werden mit Verprügeln, Würgen und Waffengewalt gleichgesetzt? Naja, dieser Faktor wird ganz bestimmt später in der deskriptiven Statistik berücksichtigt. Oder?

2. Die Methodik:

Die folgenden Überblicksdaten zur Gewaltbetroffenheit der Frauen seit dem 16. Lebensjahr beziehen sich bei körperlicher und sexueller Gewalt auf alle Angaben aus dem mündlichen und schriftlichen Fragebogenteil. Die Überblicksdaten zu sexueller Belästigung und zu psy­chischer Gewalt beziehen sich nur auf die Angaben im mündlichen Fragebogenteil, da zu diesen keine vergleichbaren Untersuchungsinstrumente im schriftlichen Teil vorliegen.

Eine Befragte galt als von einer Gewaltform betroffen, wenn sie in der Einstiegsfrage oder in der nachfolgenden Itemliste angab, mindestens eine der genannten Gewalthandlungen mindestens einmal in ihrem Erwachsenenleben erlebt zu haben; weitere Differenzierun­gen wurden dann anhand der nachfolgenden Angaben zu erlebter Gewalt vorgenommen. [Hervorhebung nicht im Original]

Natürlich wird dieser Faktor nicht berücksichtigt. Stattdessen reicht bereits der Umstand, dass eine Befragte irgendwann seit ihrem 16. Lebensjahr einmal „wütend geschubst“ wurde (welchen Mehrwert auch immer das Adjektiv dabei hat), um als „Opfer von Gewalt“ klassifiziert zu werden. Das dürfte wohl die beste Methode sein, um seine Zahlen inflationär aufzublähen. It’s not a bug, it’s a feature.

Und entsprechend sieht dann auch die erste Itemliste der mündlichen Befragung aus:

Studie_GewaltFrauenItemliste1

Beißen, Kratzen, Schubsen, Arm umdrehen auf der gleichen Stufe mit Verprügeln, Würgen, Verbrühen und Waffengewalt. Vermutlich sind unter dieser Definition 99% aller Menschen schon einmal „Opfer von Gewalt“ geworden, wenn sie auch nur eine öffentliche Schule besucht haben. Itemliste 2 ist komischerweise deutlich fokussierter und daher auch nachvollziehbarer:

Studie_GewaltFrauenItemliste2Mich dünkt, hier wurde in vollem Bewusstsein die Definition einer Gewaltform, nämlich der körperlichen Gewalt, so offen und breit wie möglich gestaltet, um noch einen Plan B in der Hinterhand zu halten, falls die erhobenen Daten am Ende nicht ins gewünschte Bild passen.

Da habe ich den Autoren aber dann doch zu viel „Anerkennung“ entgegenbringen wollen. Sie haben stattdessen einfach noch einen Fragebogen, mit einer eigenen Itemliste erstellt, um körperliche und sexuelle Gewalt in Paarbeziehungen zu erfragen:

Studie_GewaltFrauenItemliste4_1

Hm. Die Art und Weise der Befragung kommt mir irgendwie bekannt vor. Warum genau erfasst man hier nicht „ausschließlich strafrechtlich relevan­te Formen wie Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung und unterschiedliche Formen von sexueller Nötigung unter Anwendung von körperlichem Zwang oder Drohungen“, so wie in Fragebogen Nummer 2? Ein Schelm wer Böses dabei denkt.

3. Die Zusammensetzung der zitierten 25%:

Und tadaa, was sehen wir dann in der deskriptiven Statistik?

Studie_GewaltFrauenItemliste3

Sexuelle Gewalt allein kommt „nur“ auf 12% bzw. 13% wenn auch noch die Daten aus einem weiteren, schriftlichen Fragebogen mit einbezogen werden. Dieser Wert war den Autoren offenbar zu gering und überraschenderweise ist nahezu jede dritte Befragte schon einmal Opfer von körperlicher Gewalt gewesen. Warum also nicht einfach eine weitere Kategorie erstellen, in der man dann mit einem zusätzlichen Fragebogen ermittelt, ob eine Befragte sexuelle oder körperliche Gewalt durch den Partner erlitten hat? Und schon sind wir bei den von Frau Stokowski zitierten 25%. Klingt natürlich deutlich besser, nicht wahr?


Jetzt bin ich bei einer weiteren Betrachtung der Formulierungen in der Tabelle aber doch noch mal etwas stutzig geworden. In der Legende findet sich folgende Erklärung:

die Anteile erhöhen sich,wenn Angaben aus schriftlichem Fragebogen einbezogen werden (siehe Angaben in Klammern bei türkischen/osteuropäischen Migrantinnen und Hauptuntersuchung).

Das heißt, dass die Zahlen ohne Klammern sich nur aus der mündlichen Befragung zusammensetzen, während sich die Zahlen mit Klammern entweder nur aus der schriftlichen Befragung oder aus mündlicher und schriftlicher Befragung zusammensetzen. Der Text ist in Bezug darauf leider nicht eindeutig. Für die Hauptstudie (also die dunkel-orange Spalte), wird aber noch einmal explizit gesagt, dass es sich hier nur um die schriftliche Befragung bei den Zahlen in Klammern handelt (****).

Warum sinkt die Zahl von 25% auf 13%, wenn man eine schriftliche Befragung durchführt? Dieser Unterschied ist definitiv nicht zu vernachlässigen. Wurden hier den Befragten bei der mündlichen Befragung bestimmte Antworten nahegelegt?

Die letzte Kategorie lautet außerdem „sexuelle oder körperliche Gewalt durch Partner“. Itemliste 5 beschreibt aber die „Erfassung von körperlicher und sexueller Gewalt in Paarbe­ziehungen im schriftlichen Fragebogen“.

Woraus setzen sich also die 25% zusammen, die laut der Legende aus einer mündlichen Erhebung stammen müssen, wenn nur eine schriftliche Befragung über körperliche und sexuelle Gewalt vorgenommen wurde? Wurden hier dann letztendlich doch die Werte aus Itemliste 1 und 2 zusammengeworfen?

Möglicherweise übersehe ich hier etwas. Oder die Studie ist einfach irreführend und basiert auf einer unpräzisen und schlechten Methodik. You decide.