Nervöse Filter – Wie uns unser Gehirn täuscht [Brain Black Box – Episode 2]

Ist das was wir sehen, hören und fühlen echt oder nur eine Interpretation unseres Gehirns? Und wenn es nur eine Interpretation ist, wie genau bildet unser Gehirn die Realität ab? Erfassen wir überhaupt alle uns zur Verfügung stehenden Informationen oder filtert unsere Wahrnehmung vor allem das heraus, was besser in unsere Idealvorstellung der Welt passt? Wo befinden sich diese kognitiven Fallstricke und wie kann man sie erkennen und besser mit ihnen umgehen?

Das Rätsel um die Brain Black Box geht weiter.

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Quellen:

Ein großer Teil dieses Videos basiert auf dem Buch von Thomas Gilovich:
Thomas Gilovich: How We Know What Isn’t So: The Fallibility of Human Reason in Everyday Life ► https://www.amazon.de/How-Know-What-Isnt-Fallibility/dp/0029117062

Christian Anders – Kristallenergie heilt Aids und Krebs ► https://youtu.be/A_aQphHEU84

Spurious correlations – Webseite, die Scheinkorrelationen darstellt ► http://www.tylervigen.com/spurious-correlations

Destiny: Debating Lauren Southern on immigration ► https://youtu.be/AhYXZtCaSng

Wikipedia-Artikel zu Anekdoten ► https://de.wikipedia.org/wiki/Anekdote

Epistemic rationality: Skepticism toward unfounded beliefs requires sufficient cognitive ability and motivation to be rational – Interessantes Paper zur Motivation hinter Rationalität und Skeptizismus ► https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0191886917306323

Cosmic Cortex: Episode #2: Falsche Erinnerungen ► https://youtu.be/x8bCUtoVwec

Wikipedia-Artikel zu Samuel Hahnemann, dem Begründer der Homöopathie – kleiner Teaser auf das Thema des kommenden Videos ► https://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Hahnemann

Die Brain Black Box – Wahrnehmung und Verzerrung

Das menschliche Gehirn. Wie funktioniert es? Wie nehmen wir etwas wahr und warum stimmt unsere Wahrnehmung oftmals nicht mit der Realität überein? Wie verleitet es Menschen zu Scheinargumenten und Fehlschlüssen? Wie füttert es die Mythen des Alltags oder Verschwörungstheorien und extreme Weltanschauungen? Warum bemerken wir nicht, wenn wir unser Denken durch Heuristiken gelenkt wird? Wie wirken sich die dadurch ausgelösten Biases bzw. Neigungen unseres Denkens auf unser Urteilsvermögen aus?

Alle diese Fragen versucht Der Doktorant in der ersten Episode der Videoserie „Die Brain Black Box“ zu ergründen.

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Vorläufiges Ergebnis der Umfrage im Video (02.05.2018):

„Intuitive“ Antwort – 19%
Korrekte Antwort – 69%
Andere Antwort – 10%

Die Ergebnisse des CRT in diesem Kontext (Youtube-Video ohne Kontrolle des Verhaltens jedes „Probanden“) sind natürlich mit extremer Vorsicht zu genießen. Es gibt keine Möglichkeit zu kontrollieren, ob wirklich jeder Zuschauer nur die 5 Sekunden Bedenkzeit eingehalten hat oder ob nicht doch bei der Beantwortung anderweitig geschummelt wurde. Zumindest deuten einige der Kommentare unter diesem Video daraufhin, dass einige nicht ganz so ehrlich mit sich selbst waren.

Dennoch ist es sehr beeindruckend, dass fast 20% der Teilnehmer dieser Umfrage die heuristische, d.h. als intuitiv korrekt empfundene Antwort gegeben haben. In Laborversuchen steigt diese Zahl auf 50-70% der Befragten. In beiden Fällen lässt sich erkennen, welchen starken Einfluss mentale Heuristiken auf unsere täglichen, spontanen Gedanken haben können. In den nächsten Folgen werden wir uns noch genauer mit diesem Einfluss beschäftigen.

Quellen:

Das menschliche Gehirn ► http://www.ekoportal.org/wp-content/uploads/2018/04/brain-diagram-with-labeled-parts-beautiful-human-brain-diagram-labeled-unlabled-and-blank-of-brain-diagram-with-labeled-parts.jpg

Eine typische Nervenzelle/Neuron ► https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/1/10/Blausen_0657_MultipolarNeuron.png/1200px-Blausen_0657_MultipolarNeuron.png

Pinnas verflochtene Illusion ► https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/45/Pinna%27s_illusory_intertwining_effect.gif

Kognitiver Reflexionstest ► https://en.wikipedia.org/wiki/Cognitive_reflection_test

Heuristiken ► https://de.wikipedia.org/wiki/Heuristik

Daniel Kahneman – Schnelles Denken, Langsames Denken ► https://de.wikipedia.org/wiki/Schnelles_Denken,_langsames_Denken

Wild Wolves Hunting – Planet Doc ►https://www.youtube.com/watch?v=XoYwhV1p3Cs

Intro-Song: Coverversion von Pokemon – XY&Z (im Original von Rica Matsumoto) ►https://www.youtube.com/watch?v=CQuObfTx6Cg

Outro-Musik: Valesco – Cloud 9 ► https://soundcloud.com/argofox/valesco-cloud-9

Neujahrs-RANT – Neuer Content, NetzDG, #KrautGate [Dokto-RANT #8]

Zum neuen Jahr 2018 rekapituliere ich die letzten Monate meiner Inaktivität, rede über den kommenden, geplanten Content und diskutiere über das jetzt in Kraft getretene Netzwerkdurchsetzungsgesetz sowie das kürzliche Drama zum sogenannten #KrautGate. Viel Spaß!

Puls am Limit – Wenn Wissenschaft falsch verstanden wird

Auch wenn sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen gerne mit seinem Bildungsauftrag und der damit verbundenen Wissens- und Kulturvermittlung schmückt, so fällt doch in überraschender Regelmäßigkeit auf, dass gerne mal nur der Schein einer korrekten Informationsvermittlung gewahrt wird. Als Resultat werden Beiträge mit wissenschaftlichem Anstrich produziert, die, für den Laien nicht sofort erkennbar, ein ganz bestimmtes Narrativ transportieren sollen. Dass diese Beiträge einer genaueren Prüfung nicht standhalten, soll in dieser Videoanalyse aufgezeigt werden. Viel Spaß!

Quellen

http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/uebergewicht-erhoeht-diabetes-risiko-zwillingsstudie-a-1105837.html
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4050298/pdf/10508_2013_Article_166.pdf
https://de.wikipedia.org/wiki/Mustererkennung
https://de.wikipedia.org/wiki/Schnelles_Denken,_langsames_Denken#Zwei_Systeme
https://de.wikipedia.org/wiki/Wahrnehmungsfehler
https://de.wikipedia.org/wiki/Reflexion_(Philosophie)
https://de.wikipedia.org/wiki/Assoziation_(Psychologie)
https://de.wikipedia.org/wiki/Diskriminierung#Die_Begriffe_positive_Diskriminierung_und_negative_Diskriminierung
https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbergewicht#Medizinische_Folgeerkrankungen
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1038/oby.2002.202/full
http://www.spiegel.de/gesundheit/ernaehrung/uebergewicht-fettleibigkeit-erhoeht-risiko-fuer-stoerungen-im-gehirn-a-851156.html
https://www.amazon.de/Fettlogik-%C3%BCberwinden-Nadja-Hermann/dp/3548376517
https://de.wikipedia.org/wiki/Statistische_Versuchsplanung
http://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/experimentalgruppe/4549
http://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/kontrollgruppe/8161
https://de.wikipedia.org/wiki/Suggestivfrage
https://de.wikipedia.org/wiki/Kognitive_Dissonanz
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/233461/umfrage/entwicklung-von-uebergewicht-und-adipositas-in-deutschland-unter-frauen/
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/233449/umfrage/entwicklung-von-uebergewicht-und-adipositas-in-deutschland-bei-maennern/
http://www.berliner-zeitung.de/berlin/ausbildungsverbot-sechs-zentimeter-zu-klein-fuer-den-traumjob-bei-der-berliner-polizei-28160574
http://www.ksta.de/wirtschaft/-gewicht-beruf-vorschrift-uebergewicht-kuendigung-arbeitnehmer-1712862
https://bund-laender-nrw.verdi.de/++file++52fa1ea66f684402e600013a/download/Download-29.11.2013.pdf

 

Transkript

 

Der Kampf der Marginalisierten und Geächteten gegen die alles erdrückende Maschinerie des Kapitalismus. Ein Narrativ, welches man einfach lieben muss. „Jetzt reicht es, wir stellen uns dagegen!“ Aber gegen was eigentlich? Dagegen, dass Körpergewicht ein medizinisch und gesundheitlich relevanter Faktor ist, vor allem dann, wenn er sich stark außerhalb des Normbereichs bewegt? Dagegen, dass Normalgewicht ein evolutionäres Signal für Gesundheit und Attraktivität ist und Menschen daher in der Regel diesem Ideal entsprechen wollen? Dagegen, dass Akteure innerhalb eines kapitalistischen Systems dieses Verlangen und diese Wünsche aufgreifen, um daraus Kapital zu schlagen?

„Nimm deinen Körper so an wie er ist und liebe deinen Körper so wie er ist“ verrät uns Ariane Alter zu Beginn dieses Beitrags des Magazins Puls, eine Sendung produziert vom Bayrischen Rundfunk. Eine positive Botschaft. Interessant sind jedoch vor allem die tiefer gehenden Implikationen dieses Statements: Soll also davon ausgegangen werden, dass der eigene Körper etwas grundsätzlich Gegebenes und Unveränderliches ist, an dem man persönlich wenig oder nur unter großem und schweren Arbeitsaufwand etwas verändern kann? Dass es besser ist den eigenen Körper zu akzeptieren, egal wie gefährlich und ungesund dieser Zustand auch sein sollte? Nur mit dem Ziel, die eigene Psyche vor Selbstzweifeln und Unsicherheit zu schützen, ungeachtet der negativen Auswirkungen auf sich selbst und die Solidargemeinschaft hinter den Sozial- und Gesundheitssystemen? Nun gut, warten wir doch erst einmal ab, ob diese Position innerhalb dieses Beitrags überhaupt konsistent aufrechterhalten werden kann.

Ein Plus-Size-Model als Advokatin für Body-Positivity. Nicht, dass ich etwas gegen ihren persönlichen Lebensweg einzuwenden hätte, aber ob eine Person, die mit ihrem medizinisch-relevanten Übergewicht Geld verdient wirklich die beste und neutralste Interviewpartnerin für dieses Thema ist, möchte ich doch in starke Zweifel ziehen. Sie hat schließlich den größten finanziellen Vorteil dadurch, dass ihr Körper „so ist wie er eben ist“ und das dürfte für den größten Teil der Bevölkerung nicht der Fall sein.

Aha. Ihr Körpergewicht ist also eine persönliche Entscheidung. Ich dachte bis eben gerade noch, dass man seinen Körper so annehmen soll wie er ist? Wann hat sie also die Entscheidung getroffen zuzunehmen? Wollte sie wirklich Plus-Size-Model werden und hat deswegen ihre tägliche Kalorienaufnahme erhöht? Und wenn wir annehmen, dass ihre Beschreibung der Wahrheit entspricht: Kann Jana ihre Entscheidung einfach wieder ändern und ein Körpergewicht im Normbereich bekommen? Oder handelt es sich hierbei um eine post-hoc Rationalisierung von Jana, um ihr Körpergewicht vor sich selbst zu rechtfertigen? Eine Minute im Beitrag und bereits jetzt erhält der Zuschauer unklare Botschaften.

Um der Frage nachzugehen, ob übergewichtige Menschen von naiven Versuchspersonen – gerne auch als Otto-Normal-Bürger bezeichnet – anders eingeschätzt werden als normalgewichtige Menschen, d.h. mit Vorurteilen versehen werden, wird von der Puls-Redaktion ein „Experiment“ aufgesetzt. Das Gesicht der Moderatorin Ariane Alter wird mit Hilfe von Photoshop auf den Körper einer übergewichtigen Frau transportiert und im Anschluss sollen diese beiden Bilder zufällig ausgewählten Personen auf der Straße gezeigt werden. Die Befragten sollen dann einschätzen, welchen Beruf die beiden gezeigten Damen vermutlich ausüben. Schauen wir uns die beiden gezeigten Bilder noch einmal genauer an: Sind sie wirklich identisch, abseits des veränderten Gewichts? Wirkt der Gesichtsausdruck auf dem rechten und linken Bild gleich? Welchen Einfluss hat hierbei die Bildbearbeitung gehabt? Was ist mit der Kleidung? Sind die Oberteile identisch geschnitten? Ist die Körperhaltung der beiden Frauen vergleichbar? Das sind alles Fragen, die man sich stellen sollte bevor man dieses „Experiment“ aufsetzt und ein sinnvolles, stichhaltiges Ergebnis erwartet, mit dem man seine Anfangs aufgestellte Hypothese, nämlich dass das Übergewicht die entscheidende Variable ist auf der die vermuteten Vorurteile basieren, belegen möchte. Aber schauen wir doch erst einmal, wie das Experiment im Detail durchgeführt wird.

Die befragten Personen antworten – vermutlich erwartungsgemäß den Vorstellungen der Puls Redaktion entsprechend – mit den prestigeträchtigeren Berufen für die schlanke oder normalgewichtige Ariane. Dann folgt eine Erklärung dafür, warum diese Wahl unter anderem getroffen wurde:

Was ist das? Werden hier etwa auf Basis optischer Merkmale, wie Kleidung, Hintergrund und Gesamtwirkung des Bildes bzw. des Porträts Vermutungen darüber angestellt, wie die berufliche Situation der gezeigten Person aussieht? Findet hier etwa eine Form der Unterscheidung und Charakterisierung statt, die gemeinhin als *Diskriminierung* bezeichnet wird? Nun ja, Spaß beiseite. Natürlich diskriminieren wir als Menschen mit unserem fehleranfälligen und auf Mustererkennung basierenden Gehirn permanent alles und jeden in unserer Umwelt und Umgebung. Das ist ein völlig natürlicher und unumgänglicher Prozess, eine Art Filtermechanismus mit dem es uns möglich ist, Entscheidungen ohne viel Energie- und Zeitaufwand zu treffen. Es entsteht allerdings ein offensichtlicher Nachteil daraus: Unser Gehirn tauscht Geschwindigkeit gegen Genauigkeit und das führt zu erhöhter Fehleranfälligkeit, weshalb es *immer* notwendig ist seine spontanen und intuitiven Reaktionen und Gedankengänge zu hinterfragen.

Deutet die Kleidung von der normalgewichtigen Ariane wirklich daraufhin, dass diese in einem medizinischen Beruf arbeiten könnte? Nein, tut es nicht. Es besteht kein Kausalzusammenhang zwischen der Kleidung, die Ariane in diesem Bild trägt und ihrer beruflichen Position. Es besteht nur eine mögliche *Korrelation* zwischen ihrem Kleidungssstil und einem Job in einem prestigeträchtigeren Berufsfeld, weil es potenziell eine Tendenz dafür gibt, dass Menschen mit höherem sozialen Status (zu der auch der Beruf gehört) zu einem anderen Kleidungsstil neigen, als Personen mit geringerem sozialen Status. Arianes Kleidung in diesem Bild erweckt eine Assoziation bei den befragten Personen mit genau dieser Tendenz und deshalb basieren sie ihre Antwort auf dieser vermeintlichen Korrelation. Oder anders gesagt: Die Versuchspersonen stellen sich die Frage wie wahrscheinlich es ist, dass die optischen Merkmale, die sie an der Person im Bild wahrnehmen darauf hindeuten, welche der 6 vorgegebenen Antworten die richtige sein könnte. Es handelt sich hier also um nichts weiter als eine interne Wahrscheinlichkeitsrechnung unseres Denkapparats auf Basis der limitierten Informationen die er bekommt. Da es sich hierbei aber um eine positive Assoziation handelt, gemeinhin auch als positive Diskriminierung bezeichnet, interessiert dieser Sachverhalt oftmals nicht weiter. Als Problem wahrgenommen werden diese Prozesse unseres Gehirns erst dann, wenn es sich um eine negative Form dieser Mustererkennung oder eben negative Diskriminierung handelt.

Bevor wir jetzt also zu den weiteren „Ergebnissen“ des „Experiments“ kommen, müssen wir uns erst vor Augen führen, was die optischen Merkmale – also z.B. die Körperform – der stark übergewichtigen Ariane für Informationen vermitteln und welche Wahrscheinlichkeiten vermutlich in den Köpfen der Versuchspersonen ablaufen, wenn sie mit diesem Bild konfrontiert werden.

Auch wenn viele, wenn nicht sogar alle, Formen von Stereotypen kulturell geprägt sind und durch gesellschaftliche Normen reproduziert werden, so bedeutet das nicht, dass es für die Existenz solcher Stereotype nicht valide und empirisch überprüfbare Gründe gibt. Gerade in Bezug auf Übergewicht gibt es eine überwältigende Menge an medizinischen und wissenschaftlich erhobenen Daten, die einen nahezu unumstößlichen Zusammenhang zwischen Übergewicht und signifikant erhöhtem Erkrankungsrisiko nachweisen. Das betrifft sowohl Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Schlaganfälle, Diabetes, Schlafapnoe, Arthritis und Gelenkprobleme, als auch ein erhöhtes Risiko mentale Krankheiten wie Depressionen zu entwickeln. Sogar Verringerungen der Gehirnleistung konnte in adipösen Kindern und Erwachsenen festgestellt werden. Die Autorin Dr. Nadja Hermann hat die Auswirkungen von Übergewicht und Adipositas in ihrem Buch „Fettlogik überwinden“ sehr anschaulich zusammengefasst. Sie schreibt:

„Eine Studie von Grover et al. 2014 vergleicht Gesundheit und Lebenserwartung der Menschen in verschiedenen Gewichtskategorien. Interessant ist dabei, dass nicht nur die verlorenen Lebensjahre gezählt wurden, sondern auch die verlorenen gesunden Jahre, also gewissermaßen die Lebensqualität. Die Ergebnisse beziehen sich lediglich auf die größten Risikofaktoren, nämlich Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der Studie zufolge verlieren leicht Übergewichtige bis zu 2,7 Lebensjahre und 6,3 gesunde Jahre, wenn sie bereits als junge Erwachsene übergewichtig sind. Bei Adipositas steigt der Lebenszeitverlust schon auf bis zu 5,9 Jahre, der Verlust gesunder Lebensjahre auf bis zu 14,6 Jahre. Im schwer adipösen Zustand schließlich tritt der Tod bis zu 8,4 Jahre früher ein und es gehen im Schnitt bis zu 19,1 gesunde Jahre verloren.“

Steigendes Körpergewicht geht also mit einer sinkenden Lebensqualität und einem erhöhten Sterberisiko einher. Auch wenn die befragten Personen im Beitrag von Puls diese medizinischen Daten nicht kennen, so wissen sie jedoch intuitiv, dass ein deutlich sichtbares Übergewicht etwas Negatives ist. Deutlich erhöhtes Körpergewicht fungiert als ein evolutionär-geprägtes biologisches Signal, welches uns vermittelt, dass die betroffene Person mit hoher Wahrscheinlichkeit ungesund lebt, was direkten Einfluss auf unseren zwischenmenschlichen Umgang mit dieser Person hat. Das mag nicht unbedingt fair sein und mag im Einzelfall auch nicht der Wahrheit entsprechen – schließlich finden sich immer Ausnahmen von der Regel, welche letztendlich aber die selbige nur bestätigen – weshalb auch hier immer wieder hinterfragt werden sollte, ob die eigene schnelle und intuitive Einschätzung einer Person wirklich korrekt ist. Unabhängig davon muss aber akzeptiert werden, dass die negative Grundhaltung, die die wenigen Befragten in der Straßenumfrage offenbar gezeigt haben nicht aus einer persönlichen, bewussten Abneigung oder feindlichen Haltung gegenüber Übergewichtigen entsteht, sondern einen unmittelbare, unbewusste Verankerung in unserem Gehirn besteht welche unser Urteilsvermögen dahingehend beeinflusst.

Wow. Eine Stichprobe mit 12 Beobachtungseinheiten, oder alternativ n = 12. Ohne jetzt in weitere Erklärungstiraden zum Thema Stichprobengröße und Zufallsstichprobe zu verfallen, möchte ich hier nur kurz anmerken, dass eine so kleine Anzahl an Befragten, die die Puls-Redakteure „zufällig“ auf der Straße angesprochen haben, keinerlei verlässliche Ergebnisse produzieren kann. Man könnte maximal von einer Pilotstudie reden, in der untersucht wird, ob es überhaupt ein Phänomen zu entdecken gibt, welches einer sauber durchgeführten Studie würdig ist. Aber wie wir gleich sehen werden, wird selbst dieses Mindestmaß an wissenschaftlichen Standards nicht erreicht.

Ok. Was passiert hier gerade?

Ähm, ist das jetzt euer ernst? Stopp. Aufhören.

Oh. Mein. [zensiert]. Gott.

Ok, ok, ok, ok… nur damit ich das jetzt richtig verstehe. Ihr zeigt den gleichen Personen zuerst das Bild der normalgewichtigen Frau und direkt im Anschluss das Bild der stark übergewichtigen Frau. Und dann stellt ihr auch noch Suggestivfragen im Sinne von „Stell dir bitte vor, dass ich dir das erste Bild nicht gezeigt hätte – wie würde dann deine Entscheidung beim zweiten Bild aussehen?“ In welcher Realität, kann es sich hierbei eurer Meinung nach um ein korrekt durchgeführtes „Experiment“ handeln, wenn durch euren Aufbau den befragten Personen bereits suggeriert wird, dass sie sich jetzt beim zweiten Bild anders entscheiden sollten bzw. könnten, als beim ersten Bild. Warum, liebes Puls-Team, fällt euch diese offensichtliche Manipulation eurerseits nicht auf? Mit was für einem Anspruch seid ihr überhaupt an diesen Beitrag und dem dazugehörigen „Experiment“ gegangen? Und bitte, wer auch immer sich dazu genötigt fühlt, verschont die Welt bitte mit der fast schon klischeehaften Apologie „Ja, aber das ist doch nur ein Beitrag fürs Fernsehen und wissenschaftliche Standards für korrekt durchgeführte Experimente spielen dabei doch keine Rolle!“.

Falsch. Sie spielen eine große Rolle, weil es sich hier um die Vermittlung korrekter Informationen und Vorgehensweisen handelt, die nicht nur im wissenschaftlichen und akademischen Kontext eine Relevanz besitzen. Außerdem besitzt auch der bayrische Rundfunk, als öffentlich-rechtliche Medienanstalt, einen Bildungsauftrag und damit die Verpflichtung seine Beiträge auf Korrektheit und die Vermittlung legitimer Informationen und Inhalte zu prüfen. Dieser Beitrag zeigt das genaue Gegenteil von dem, wie eine wissenschaftliche Studie durchgeführt werden muss, um zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen.

Zuerst einmal müsste eine solche Studie oder Umfrage mit einer größeren Stichprobe durchgeführt werden, dessen Teilnehmer durch ein Zufallsverfahren ausgewählt werden, welches möglichst viele Störvariablen ausschließt. Weiterhin müssen diese Teilnehmer in mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Gruppen eingeteilt werden: Experimentalgruppe 1, Experimentalgruppe 2 und eine Kontrollgruppe. Den Experimentalgruppen müsste man dann *EINES* der beiden Bilder zeigen und deren Reaktionen aufzeichnen. Der dritten Gruppe, also der Kontrollgruppe, müsste ein völlig unzusammenhängendes Bild einer Person mit z.B. identischer Kleidung gezeigt werden, um auszuschließen, dass diese spezielle Darstellung (Kleidung, Hintergrund, Gesamtwirkung des Bildes) eine messbare Auswirkung auf die Entscheidung der Teilnehmer der Umfrage hat. Außerdem muss der Interviewer die Befragung absolut wertfrei und ohne die Verwendung suggestiver Andeutungen und Fragen vornehmen, um eine mögliche Beeinflussung der Teilnehmer auszuschließen.

Aber all das spielte für die Redaktion von Puls offenbar keine Rolle, da es in diesem Beitrag offensichtlich nur darum gehen sollte ein Narrativ zu transportieren und einen Opferstatus übergewichtiger Menschen zu zementieren. Anstatt sowohl über die Risiken von Übergewicht oder sogar starken Übergewicht zu informieren als auch den Zuschauer darauf hinzuweisen, dass seine intuitiven, schnellen Entscheidungen, egal ob sie jetzt auf Basis von Kleidung, Körperform oder sonstigen unzusammenhängenden Merkmalen basieren, fehleranfällig sind und daher immer mit einer Selbstreflexion und Selbsthinterfragung einhergehen sollten. Absolut beschämend.

Und schon wieder folgt einen Wechsel der Position. Hat unser Plus-Size-Model jetzt auf schlanke Zeiten gewartet? Oder hat sie sich bewusst dafür entschieden ihre jetzige Körperform zu haben? Aus meiner Sicht, wirkt das eher wie eine Auflösung der kognitiven Dissonanz, die Jana jahrelang in sich getragen hat. Da sie nicht die Kraft aufbringen konnte schlank oder normalgewichtig zu werden, aber gerne so sein wollte und auch wusste, dass es besser für sie und ihren Körper wäre normalgewichtig zu sein, hat sie sich jahrelang schlecht gefühlt. Am Ende hat sie nicht erkannt, dass ihr die mentale Stärke fehlte ihr Ziel zu erreichen und sich nicht etwa Hilfe geholt oder letztendlich mit ihrer Situation abgefunden; nein, sie hat stattdessen ihre kognitive Dissonanz von einer anderen Seite her aufgelöst: Ich bin gut so wie ich bin und die Gesellschaft ist böse, die Gesellschaft weiß nicht was richtig ist, denn so wie *ich bin* soll es auch sein.

Irgendein Typ aus Berlin, so ein Kiffer, so so. Bisschen diskriminierend, findest du nicht auch liebe Jana? Welche Relevanz hat diese Information und was willst du uns damit sagen? Dass Kiffer dazu neigen übergewichtige Frauen zu beleidigen? Dass Kiffer tendenziell keine Ahnung haben? Hast du hier etwa gerade selbst ein in der Gesellschaft als negativ anerkanntes Merkmal herausgepickt, um diese Person von dir zu unterscheiden und für den Leser pauschal zu charakterisieren? Hast du hier etwa gerade selbst diskriminierend gehandelt? Nur mal so ein Gedanke.

Und erneut kommt die Kleidung ins Spiel. Natürlich könnte sich eine Frau mit starkem Übergewicht anders kleiden, als in dem Beispielbild gezeigt, um seriöser und attraktiver zu wirken sowie negativen Assoziationen vorzubeugen. In unserem „Experiment“ wird dem Zuschauer jedoch suggeriert, dass beide gezeigten Frauen identische Kleidung tragen würden, da beide Oberteile weiß sind. Dem ist jedoch nicht so. Zum einen ist der Schnitt der beiden Oberteile nicht gleich: Während für die normalgewichtige Ariane ein Oberteil mit typischem Frauenschnitt verwendet wurde, trägt die stark übergewichtige Ariane ein Unisex-Shirt, welches durch seinen unvorteilhaften Schnitt mehr negative Assoziationen beim Beobachter erzeugen kann. Vor allem im direkten Vergleich wird eine sehr starke Verzerrung bei den Teilnehmern der Umfrage ausgelöst – diese wird als Kontrasteffekt bezeichnet und ist eine sehr häufig auftretende Wahrnehmungsverzerrung, wenn zwei Sachverhalte, die in Kontrast zueinander stehen, gleichzeitig oder in kurzer Abfolge nacheinander präsentiert werden.

Und wenn ihr mehr über kognitive Verzerrungen und Wahrnehmungsfehler wissen wollt, dann schaut doch mal bei diesem intergalaktischen Wissenskanal vorbei: Space Rationalist behandelt in ihren Videos die Themen Rationalität und Wissenschaft und alles was noch so dazugehört. Also, worauf wartest du doch?

Wir sehen also: Mit diesem „Experiment“ ist alles falsch gelaufen, was aus wissenschaftlicher Sicht nur falsch laufen kann. Wir können den Ergebnissen nicht ansatzweise Vertrauen schenken, da die Menge an Störvariablen und möglichen Verzerrungen der gegebenen Antworten kaum zu quantifizieren oder überhaupt nachzuvollziehen sind.

Diese beiden Shirts sind nicht identisch. Es sind nicht einfach „nur weiße Shirts“ wie ich gerade zuvor beschrieben habe. Kann mich bitte jemand aus diesem Alptraum aufwecken?

Neues Experiment, diesmal werden Eigenschaften abgefragt und die gleichen fundamentalen Fehler werden wieder gemacht. „Na, was wäre wenn ich euch dieses Bild zeigen würde? Das wollt ihr doch bestimmt ganz anders bewerten als das vorherige, oder?“

Wow. Wo soll man da anfangen? Mal abgesehen davon, dass die Analogie zwischen übergewichtigen Menschen und anderen demographischen Minderheiten ziemlich weit hergeholt, wenn nicht sogar unzulässig ist, stellt die Gruppe der Übergewichtigen nicht einmal eine Minderheit oder Randgruppe dar. In westlichen Ländern sind, je nachdem welche Studien, Zahlen und Messmethoden man als Grundlage nimmt, mehr als 50% der Bevölkerung außerhalb ihres Normalgewichts. Aber vielleicht redet sie ja wirklich nur von den „Plus Size Personen“, also stark übergewichtigen bzw. adipösen Menschen. In diesem Fall mag zwar in ihrem Vergleich mit anderen Minderheiten rein auf zahlenmäßiger Basis ein Fünkchen Wahrheit bestehen, nicht jedoch mit der Art der Gruppenbildung. Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe lassen sich nicht ohne weiteres bzw. in den meisten Fällen gar nicht ändern. Im Gegensatz zum Übergewicht. Niemand (außer in sehr seltenen Fällen schwerer Stoffwechselkrankheiten) ist dazu verdammt übergewichtig oder fettleibig zu sein. Aber ja, die Opferolympiade anzuführen ist natürlich immer nützlich, vor allem dann, wenn man selbst ja sogar davon profitiert und seinen vermeintlichen Opferstatus zur Einnahmequellen gemacht hat.

Ach ja, und dann war da noch die Behauptung, dass es sich dabei um eine „legale“ Diskriminierung handeln würde. Job-Bewerber mit unerwünschten körperlichen Merkmalen können nahezu immer vom Arbeitgeber abgelehnt werden, wenn es dafür einen objektiven und nachvollziehbaren Grund gibt. So wie eine Frau mit einer zu geringen Körpergröße nicht zum Polizeidienst zugelassen werden muss, so kann auch ein Bademeister mit zu starkem Übergewicht entlassen werden, weil dieser im Notfall nicht in der Lage wäre einen ertrinkenden Menschen zu retten. Diese Formen der Diskriminierung sind grundsätzlich zulässig, da das Gleichbehandlungsprinzip immer mit dem Grundsatz der Bestenauslese in Einklang gebracht werden muss. Körperlich ungeeignete Bewerber von bestimmten Tätigkeiten auszuschließen, ist problemlos mit demokratischen und ethischen Grundsätzen vereinbar, vor allem dann, wenn von der reibungslosen Ausführung dieser Tätigkeiten Menschenleben abhängen.

Aber es gibt ja nicht nur den arbeitsrechtlichen Bereich, sondern auch die zwischenmenschliche Kommunikation in der übergewichtige und adipöse Menschen tendenziell eher von diskriminierenden Aussagen betroffen sind. An dieser Situation lässt sich leider auch nicht viel ändern, da eine staatliche oder gesellschaftliche Sanktionierung entweder absolut ineffektiv wäre oder massiv drakonisch gestaltet werden müsste, um eine wirkliche Veränderung zu erreichen. Daher, auch wenn es eigentlich keinerlei Erwähnung bedürfen sollte, dennoch hier noch einmal eine grundsätzliche Verhaltensregel, an die sich jeder halten sollte: Spart euch Beleidigungen oder schnippische Kommentare über die äußerlichen Merkmale anderer. Kritisiert Ideen und nicht Personen oder deren Aussehen – bleibt redlich. Doch mir ist bewusst, dass es immer einen gewissen Anteil der Population geben wird, die diese Verhaltensregel bewusst oder unbewusst ignorieren wird – daher auch noch ein paar Worte an die potenziellen Empfänger dieser negativen Kommentare: Stellt euch auf diese Menschen und Aussagen ein, lernt damit umzugehen und filtert relevante von irrelevanter Kritik. Verfallt jedoch nicht in ein Opferstatus-Denken, so wie es unser Plus Size Model im Beitrag präsentiert. Akzeptiert eure Situation oder leitet alle notwendigen Schritte zur Veränderung eurer Situation ein.

Fassen wir zusammen: Auch wenn das Memo inzwischen bei nahezu jedem angekommen sein müsste, muss ich es an dieser Stelle einfach noch einmal explizit erwähnen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, hier in Gestalt des bayrischen Rundfunks und des Magazins Puls, versagt erneut darin eine Vermittlung von korrekten Informationen zu bewerkstelligen. Stattdessen wird, entweder aus Unwissen oder aus dem Ziel heraus ein bestimmtes Narrativ nach vorne zu treiben, eine völlig falsche methodische Herangehensweise an ein „Experiment“ präsentiert, mit dessen Daten am Ende ein bereits vorab feststehendes Ergebnis untermauert werden soll. Nicht nur, dass dem Zuschauer damit ein völlig falsches Bild von wissenschaftlicher Methodik vorgesetzt wird, nein, mit diesen fehlerhaft erhobenen Untersuchungsergebnissen wird zusätzlich auch noch die Opfermentalität einer vermeintlichen Minderheit heraufbeschworen. Dass aber weder übergewichtige Menschen die Kriterien einer marginalisierten gesellschaftlichen Randgruppe erfüllen, noch dass das reine „mit dem Finger auf die Gesellschaft zeigen“ irgendeine positive Veränderung erzeugen kann, spielt für den bayrischen Rundfunk offenbar keine Rolle. Ein Verweis auf die Fehleranfälligkeit intuitiver Entscheidungsprozesse des menschlichen Gehirns, gerade in Fragen der Stereotypisierung von Personen oder Gruppen, wäre hier weitaus effektiver und redlicher gewesen, anstatt zum x-ten Mal die böse Gesellschaft oder den bösen Kapitalismus aus dem Mottenschrank zu zerren und zum Sündenbock zu erklären.

Wissenschaft und Rationalität sind die effektivsten Wege um der Erkenntnis ein Stück näher zu kommen. Wer Wissenschaft jedoch für seine Narrative missbraucht, weil er glaubt damit einem guten Zweck zu dienen, der wird früher oder später damit denen einen Weg bereiten, deren Intentionen das genaue Gegenteil von „gut“ sind.

Wenn euch das Video gefallen hat, dann gebt dem Ganzen doch bitte einen Daumen nach oben und lasst ein Abo da. Wenn ihr Fragen oder Feedback habt, dann würde ich mich freuen, wenn ihr mir in die Kommentarsektion schreibt oder mir eine E-Mail sendet. Alle Informationen zu meinen Profilen in den sozialen Medien, sowie alle Quellen die ich für die dieses Video herangezogen habe, findet ihr – wie immer – in der Videobeschreibung. Vielen Dank fürs Zuschauen, bis zum nächsten Mal, euer Doktorant.

 

 

Post Mortem – Identitätspolitik / Shadowban auf Twitter / #NetzDG [Dokto-RANT #7]

In diesem RANT-Video beschäftige ich mich mit der Reaktion zu meinem letzten Video über Identitätspolitik, rede über meinen Erhalt eines zweitägigen Shadowbans auf Twitter und über das kürzlich beschlossene Netzwerkdurchsetzungsgesetz a.k.a. NetzDG.

Viel Spaß!

 

Identitätspolitik – Eine Analyse

Was bedeutet eigentlich Identitätspolitik und welche Auswirkungen haben aktuelle identitätspolitische Bestrebungen in unseren modernen, liberalen Gesellschaften? In diesem Video befasse ich mit diesen Fragen und führe eine umfragreiche Analyse in Bezug auf Identitätspolitik, Kollektivismus und Individualismus durch, indem ich mich auf Forschungsergebnisse aus der Verhaltens- und Evolutionsbiologie berufe. Viel Spaß!

[Transkript]

Politische Zugehörigkeit ist für viele Menschen ein wichtiger Indikator, um den Wertekanon und die ideologische Ausrichtung eines Gegenübers korrekt einzuordnen. So könnte man aus der Mitgliedschaft oder der informellen Zugehörigkeit einer Person zu einer Partei, wie der CDU, herauslesen, dass diese Person mit hoher Wahrscheinlichkeit ein konservatives und traditionalistisches Weltbild besitzt. Doch wie bei jeder Form der Kategorisierung gibt es hier einige Fallstricke. Die besagte Person könnte nämlich auch einfach nur Bundeskanzlerin Angela Merkel als besonders kompetent und eloquent einschätzen, gleichzeitig aber mit den sonstigen Werten, die von der gesamten CDU vertreten werden, nicht übereinstimmen.

Eine Selbstzuschreibung der politischen Zugehörigkeit in einem zweidimensionalen Modell, wie es z.B. auf der Webseite politicalcompass.org möglich ist, erlaubt eine abstrakte und parteiungebundene Einordnung der eigenen ideologischen Überzeugung. Mit Hilfe einer Reihe an allgemeinen Fragen lässt sich das eigene Weltbild auf einer wirtschaftspolitischen und einer gesellschaftspolitischen Achse ermitteln. Auf beiden Achsen erstreckt sich ein Spektrum zwischen autoritären und liberalen Überzeugungen. Im Einzelnen werden auf der X-Achse wirtschaftsautoritäre Überzeugungen mit „politisch links“ gekennzeichnet, während wirtschaftsliberale Überzeugungen mit „politisch rechts“ gekennzeichnet werden. Auf der Y-Achse ergibt sich ein analoges Bild: Hier werden gesellschaftspolitische Überzeugungen, die dem Individuum mehr persönliche Freiheiten zugestehen als „liberal“ gekennzeichnet und Einschränkungen der persönlichen Freiheiten zugunsten der gesamten Gesellschaft, also des Kollektivs, werden als „autoritär“ gekennzeichnet.

Kollektivismus beschreibt also ein System von Normen und Werten, in dem das Wohlergehen des Kollektivs die höchste Priorität einnimmt, auch zum Nachteil Einzelner innerhalb des Kollektivs. Der Gegenentwurf zum Kollektivismus ist der Individualismus, bei dem das Wohlergehen und die Rechte des Einzelnen im Mittelpunkt stehen.

So würde die Befürwortung eines Abtreibungsverbot die eigene Position in diesem Modell in Richtung „autoritär“ verschieben; eine Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Frau in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs würde die eigene Position in Richtung „liberal“ verschieben. Wichtig ist es hierbei auch den Blick auf die abstrakte Ebene nicht zu verlieren. Die Befürwortung eines Abtreibungsverbots ist nicht nur eine gesellschaftsautoritäre Überzeugung, weil damit das Selbstbestimmungsrecht der Frau eingeschränkt wird, es handelt sich gleichzeitig auch um eine kollektivistische Überzeugung. Der Staat, die Gesellschaft, das Kollektiv profitiert von einer höheren Geburtenrate und aus diesem Grund ist es für eine Person mit gesellschaftsautoritärer Ideologie vollkommen legitim und gerechtfertigt, das Selbstbestimmungsrecht des Individuums zugunsten des Kollektivs einzuschränken.

Autoritäre Überzeugungen sind also eng mit kollektivistischen Ansichten verknüpft, während liberale Überzeugungen grundsätzlich mit der Befürwortung von Individualrechten einhergehen. Diese unterschiedlichen Überzeugungen haben weiterhin direkten Einfluss auf die Wahl der Methoden, also der Vorgehensweise, um die eigenen politischen Überzeugungen durchzusetzen. Kollektivistische Überzeugungen rechtfertigen autoritäre Vorgehensweisen, die die Individualrechte missachten können, während individualistische Überzeugungen nur mit Berücksichtigung der persönlichen Freiheiten jedes Einzelnen durchgesetzt werden können.

Weil die politische Zugehörigkeit für viele Menschen eine so wichtige Information darstellt, wurde ich bereits zu Beginn meiner Zeit auf Youtube mit der Frage danach konfrontiert. „Welche Partei würdest du wählen?“ oder „Ordnest du dich eher links oder rechts ein?“ waren häufige Kommentare, die ich unter meinen Videos lesen konnte. Ich beantwortete diese auch immer wahrheitsgemäß mit meinem Ergebnis des politischen Kompass, nach dem ich eindeutig im linksliberalen Quadranten anzusiedeln bin. Das bedeutet, dass meine ideologische Überzeugung vorrangig wirtschaftsautoritär und gesellschaftsliberal ist. Ich stehe damit für Individualrechte ein und äußere mich gegen kollektivistische Politik, wenn es um soziale und gesellschaftliche Aspekte geht. Aus dieser ideologischen Überzeugung, also meiner Weltanschauung, heraus speist sich auch meine Abneigung gegen eine Sonderform des Kollektivismus, der sogenannten Identitätspolitik. Doch was ist Identitätspolitik eigentlich?

Es existiert keine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs Identitätspolitik, wodurch dessen Verwendung häufig zu Verwirrung führt, gerade im deutschen politischen Diskurs. Der Politikwissenschaftler Nikolaus Werz definiert Identitätspolitik als eine „bewusst gesetzte Grenzziehung zwischen dem Eigenen (die dazu gehören) und dem Anderen (die ausgeschlossen sind). Problematisch sind [aus seiner Sicht] Festschreibungen kollektiver Identität, zumal Wissenschaftler eigentlich vom einzelnen Individuum ausgehen.“ Auch wenn es sich dabei nur um eine mögliche Auslegung der Definition des Begriffs Identitätspolitik handelt, wird schnell klar, dass zum einen eine Unterscheidung des Identitätsbegriffs auf individueller und kollektiver Ebene notwendig ist und es sich zum anderen um eine politische Vorgehensweise handelt, bei der eine oder mehrere Formen der bewussten Abgrenzung betrieben werden.

Bevor wir die Unterscheidung in individuelle und kollektive Identität jedoch treffen können, müssen wir die Definition des Begriffs Identität selbst klären: Leider ist auch die wissenschaftliche Debatte um das Konzept der Identität noch nicht ausgefochten und deshalb finden sich verschiedene Erklärungsansätze dafür was Identität eigentlich bedeutet. Die psychologische Forschung ist sich jedoch weitgehend darüber einig, dass es sich bei der Identität um ein dynamisches Selbstkonzept handelt. Also das Wissen über persönliche Merkmale, d.h. Charaktermerkmale, Fähigkeiten, Vorlieben und Gefühle; über alles das was uns besonders macht. Diese Eigenschaften sind nicht statisch, sondern stehen in ständiger Wechselwirkung mit dem sozialen Umfeld. Der Begriff Identität beschreibt also in erster Linie die sogenannte persönliche Identität, welche einem lebenslangen Wandel unterliegt.

Daraus ergibt sich ein wichtiger Schluss für die Beurteilung der Identitätspolitik: Identitätspolitische Handlungen auf Basis des Individuums zu beschreiben ist eine Tautologie. Jedes Individuum ist und hat  eine einzigartige Identität, grenzt also permanent das Eigene vom Anderen ab und agiert daher auch immer zwangsläufig identitätspolitisch. Es ist unmöglich die identitätsbildenden Erfahrungen die ein Mensch in seinem Leben macht von seiner Person zu trennen, seien es nun positive oder negative Erlebnisse, Herkunft, Erziehung, das Aufwachsen in Reichtum oder Armut, Zugang zu Bildung, religiöse und gesellschaftliche Bräuche und so weiter. Der Einzelne, in seiner momentanen Geisteshaltung, ist immer eine Summe seiner Erfahrungen, die durch seine soziale Umwelt und seine biologische bzw. genetische Ausstattung ohne Unterlass moduliert wurde und bis zu seinem Ableben moduliert werden wird.

Kollektive Identität ist jedoch ein gänzlich anderes Spielfeld. Die Soziologen Francesca Polletta und James M. Jasper definieren kollektive Identität in ihrer Veröffentlichung „Collective Identity and Social Movements“ aus dem Jahr 2001 wie folgt: „Kollektive Identität ist die kognitive, moralische und emotionale Verbindung eines Individuums mit einer größeren Gemeinschaft, Kategorie, Vorgehensweise oder Institution. Es ist die Wahrnehmung eines gemeinsamen Zustands oder einer Verbindung, welche eher eine Vorstellung ist als direkt erfahren wird, und welche sich zwar eindeutig von persönlichen Identitäten unterscheidet, aber dennoch Teil einer persönlichen Identität sein kann.“

Kollektive Identität basiert also nicht zwangsläufig auf persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen, welche über die Zeit das eigene Denken und die eigene Weltanschauung geformt haben. Kollektive Identität ergibt sich auch nicht aus der Summe einer bestimmten Menge persönlicher Identitäten, sondern basiert primär auf einer Vorstellung oder einer geglaubten Verbindung mit anderen. Dadurch handelt es sich um eine soziale Konstruktion, welche mit ausreichend Zeit und genügend Überzeugungskraft zum Teil einer persönlichen Identität werden kann. Lassen sich aber möglicherweise auch biologische Argumente für das Entstehen kollektiver Identitäten, abseits von sozialer Konstruktion, finden?

[Kollektivismus und die Dunbar-Zahl]

Der Anthropologe Robin Dunbar entwickelte ein Konzept, welches heute als „Dunbar-Zahl“ bezeichnet wird. Dunbar veröffentlichte im Jahr 1993 eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel „Coevolution of neocortical size, group size and language in humans“ und beschrieb darin den Zusammenhang zwischen der Größe des Neocortex und der maximalen Menge an Individuen einer Spezies, die sich zu stabilen Gruppenverbänden zusammenschließen können. Dunbar argumentiert, dass der Mensch anhand der durchschnittlichen Größe seines Neocortex, also dem Bereich des Gehirns, welcher für höhere kognitive Funktionen wie die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen und Sprache zuständig ist, abschätzen lässt, dass menschliche Gruppenverbände eine Größe von maximal 150 – 250 Individuen erreichen und dabei gleichzeitig über lange Zeiträume stabil bleiben können. Größere Gruppenverbände lassen den Zusammenhalt schwinden und führen zum Zusammenbruch der Strukturen. Er belegt seine Hypothese mit empirischen Daten aus verhaltensbiologischen Analysen der Gruppengrößen verschiedener Primatenarten und anthropologischer Untersuchungen sozialer Verbände des Menschen.

So zeigen zum einen die Größen verschiedener Sammler- und Jagdgruppen von Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans den gleichen Zusammenhang mit der jeweiligen relativen Größe des Neocortex. Zum anderen findet sich ein Zusammenhang bei sowohl den Klans und Stammesgruppen indigener Völker Neuguineas, als auch bei den militärischen Verbänden verschiedener Nationen ab dem 16. Jahrhundert. Einzelne Kompanien bestanden grundsätzlich aus 100 bis maximal 300 Individuen, da sich diese Verbandsgrößen als stabile Gruppen herausgestellt hatten.

Besonders wichtig hierbei ist, dass die Kriterien für das Zusammenfinden aller dieser Gruppen nicht auf genetischer Verwandtschaft beruhen müssen. Dies lässt sich zwar oft beobachten, vor allem bei den Beispielen indigener Völker und nicht-menschlicher Primaten, doch selbst bei diesen konnte gezeigt werden, dass gemeinsame Interessen der primäre Aspekt für das Formen von Gruppenverbänden sind, während Verwandtschaft und Familienzugehörigkeit nur einige von vielen sozialen Faktoren darstellen. So finden sich z.B. Meerkatzen auch zu außerfamiliären Gruppen zusammen, wenn dies durch ökonomische und andere soziale Bedingungen begünstigt wird. Ähnliches gilt für die militärischen Verbände frühneuzeitlicher Staaten und Nationen. Auch hier bestand in der Regel keine Verwandtschaft zwischen den Soldaten einer Truppe.

Aus dieser empirischen Grundlage ergibt sich die Schlussfolgerung, dass menschliche Sozialverbände aufgrund kognitiver Grenzen nicht mehr als ca. 150 – 250 Individuen beinhalten können sollten. Innerhalb dieser Dimensionen ist aber prinzipiell die Existenz einer kollektiven Identität, z.B. aufgrund von Verwandtschaft und familiären Bünden, denkbar. Doch wenn wir uns das soziale und politische Geflecht der Spezies Mensch anschauen, dann wird schnell klar: Nur noch sehr wenige menschliche Gruppen weisen diese verhältnismäßig geringen Größen auf. Die Regel sind hingegen Super-Gruppen, Nationalstaaten von der Größe mehrerer Millionen Individuen, die sich als kohärente Gesellschaft verstehen und die für Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte stabil bleiben können. Faktoren wie Verwandtschaft können hier nahezu keine Auswirkungen auf die Stabilität dieser Gesellschaften haben, da die schiere Größe dieser Super-Gruppen die kognitiven Fähigkeiten und damit den bewussten und unbewussten Wahrnehmungshorizont des Individuums überschreitet. Der Verwandtschaftsgrad zwischen einem Menschen in Berlin und einem Menschen in München ist für beide Personen nicht erfassbar, vor allem dann nicht, wenn sich diese beiden Personen möglicherweise niemals begegnen und keine direkten sozialen Interaktionen pflegen können. Stabilität und Kohärenz von modernen Gesellschaften muss also durch andere Methoden erzeugt und ermöglicht werden.

Dunbar liefert auch dafür einen Erklärungsansatz. Er schlussfolgert aus den vorhandenen Daten, dass die Entstehung von Sprache eine logische Konsequenz war, um das Problem der maximalen Gruppengröße in der menschlichen Spezies zu überbrücken. Alle Super-Gruppen wie z.B. Nationalstaaten bestehen aus vielen kleineren Zusammenschlüssen von Menschen, in der Soziologie als soziale Gruppe bezeichnet, die sehr selten größer als hundert Personen sind. Intensive soziale Bindungen sind laut einer Arbeit der Autoren Christian Buys und Kenneth Larsen aus dem Jahr 1979 sogar nur zwischen maximal 10 – 12 Individuen möglich. Übersteigt die Gruppengröße die kognitive Erfassungsfähigkeit der Individuen, müssen mit Hilfe von Sprache abstrakte Abgrenzungen wie z.B. Hierarchien, Stände oder Klassen geschaffen werden.

Sprache ermöglicht einerseits die Kategorisierung von Individuen in Typen bzw. Arten, wodurch diese als Gruppe zusammengefasst werden können und erlaubt andererseits Individuen mit den richtigen Verhaltensregeln gegenüber diesen Gruppen zu instruieren. Als Beispiel führt Dunbar optische Merkmale und bestimmte Kleidungsstile an, wie z.B. den Römerkragen von Priestern oder die Uniformen von Polizisten und Soldaten, durch welche signalisiert wird, wie der Einzelne mit Mitgliedern dieses Berufsstandes oder dieser Klasse umzugehen hat. Dadurch reduziert sich die kognitive Belastung des Individuums, da nun nicht mehr zu jedem einzelnen Mitglied einer bestimmten Gruppe soziale Bindungen eingegangen werden müssen, sondern allgemeine Verhaltensregeln auf eine spezifische Gruppe angewendet werden können. Dadurch sind hierarchisch strukturierte Gesellschaften von mehreren hunderttausend bis Millionen Individuen möglich.

Doch Dunbar weist mehrfach in seiner Arbeit daraufhin, dass auch Sprache kein perfektes Mittel ist, um die Stabilität und Kohärenz von Super-Gruppen zu gewährleisten. Je größer die Gruppe, desto loser werden die Bindungen und desto stärker wird die Gefahr, dass Super-Gruppen kollabieren. Als Nachweis beruft er sich hier auf den Untergang der meisten großen Imperien und Reiche im Verlauf der Geschichte, seien es nun das römische, persische oder mongolische Imperium oder aus der jüngeren Zeit, das British Empire.

Je größer eine Super-Gruppe wird, desto mehr Abstraktionsfähigkeit wird von den Individuen innerhalb der Super-Gruppe gefordert. Es ist naheliegend, dass auch hier das kognitive Maximum von 150 – 250, nun nicht mehr Individuen, sondern verschiedenen Kategorisierungen greift. Mit zunehmenden Wachstum der Super-Gruppe müssen mehr und mehr formelle Regeln wie Gesetze und soziale bzw. kulturelle Umgangsformen geschaffen werden um die Stabilität zu wahren. Liberale und autoritäre bzw. individualistische und kollektivistische Systeme schlagen für die Lösung dieses Problems unterschiedliche Wege ein: Da kollektivistische Ideologien die Super-Gruppe als Priorität betrachten und im Zweifel die Individualrechte des Einzelnen ignorieren und übergehen, wird die größer werdende Notwendigkeit von Stabilität  mit deutlichen und kompromisslosen Forderungen zur Disziplin sowie blindem Vertrauen gegenüber der Super-Gruppe selbst und ihren Zielen durchgesetzt.

Der Blick in die Geschichte zeigt, dass sich in kollektivistischen Systemen verschiedene autoritäre Konzepte zur Wahrung der Stabilität etablierten. Um den Einzelnen zum Verzicht seiner Individualrechte zugunsten des Kollektivs zu bewegen, wurde nicht selten die Existenz vermeintlicher Verwandtschaftsverhältnisse zwischen allen Gruppenmitgliedern heraufbeschworen. Mit der Berufung auf die angebliche Existenz einer gemeinsamen Familie und Abstammung konnte das Individuum bis hin zur völligen Selbstaufopferung getrieben werden, da die Bereitschaft einem Verwandten zu unterstützen ungemein größer ist als dies gegenüber einem nicht-verwandten Individuum der Fall wäre. Indem ein Trugbild des Kollektivs als eng miteinander-verwandte Gemeinschaft geschaffen wurde, war es einfach das Individuum mit den Gruppeninteressen in Einklang zu bringen und Querdenker oder Abweichler zu sanktionieren.

Formalisiert wurden diese Vorgehensweisen in den Ideen von z.B. Ehre und bedingungsloser Loyalität gegenüber der eigenen Nation. Begrifflichkeiten wie Vaterland oder im Englischen „Motherland“ bzw. „mother country“ zeugen noch immer von der Konstruktion des Kollektivs als Familienbund. Mit diesen Werkzeugen war es problemlos möglich, sozialen Druck auszuüben und z.B. durch die öffentliche Bloßstellung als Vaterlandsverräter den Einzelnen zu manipulieren und zu Handlungen zu zwingen, zu welchen er oder sie anderweitig nicht bereit gewesen wäre.

Ob in absolutistischen Systemen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, religiösem Fundamentalismus oder den kollektivistischen Staatssystemen der Moderne wie Kommunismus und Faschismus, die mit ihrem totalitären Anspruch das Wesen des Individuums selbst innerhalb der Super-Gruppe nach ihrem Wunsch formen wollten; in allen diesen Systemen finden wir die Konzepte von Ehre und Loyalität, häufig in ihren irrationalen und extremsten Ausprägungen. Durch Fehlverhalten oder Missachtung der Werte und Normen eines Systems verhält sich das Individuum schändlich – es begeht eine Ehrverletzung und bringt dadurch Schande über sich und das Kollektiv, wodurch sein Ansehen innerhalb der Gruppe und der gesamten Gruppe leidet.

Ehre als Werkzeug des sozialen Drucks wurde vor allem im Nationalsozialismus massiv durch die Idee der Rassenzugehörigkeit mit vermeintlichen Verwandtschaftsverhältnissen in Verbindung gebracht. „Ehre: Bestand und Bewahrung der eigenen Art, Eintreten und notfalls Sichopfern für die eigene Art und für deren höchste Werte. Gegensatz dazu: Ehrlosigkeit, Verfall, Preisgeben, Verrat, Befleckung der eigenen Art. Ehre kann es nur geben, wenn Bewußtsein der eigenen Art vorhanden ist; wer sich nicht – und sei es unbewusst, instinktiv – zu seiner eigenen Art bekennt, besitzt auch keine Ehre.“ Diese Definition konnte man in deutschen Lexika des Jahres 1937 lesen. Ziel war es das Individuum mit einer vermeintlichen Verwandtschaftsbeziehung – der sogenannten eigenen Art – an das Kollektiv und dessen Interessen zu binden. Der Einzelne wurde somit überzeugt – oder besser gesagt gezwungen – die kollektive Identität zum Teil seiner persönlichen Identität werden zu lassen oder seine persönliche Identität sogar gänzlich mit der kollektiven Identität zu ersetzen.

Moderne Gesellschaften, d.h. westliche liberale Demokratien, basieren zwar ebenfalls auf autoritären und hierarchischen Strukturen, verzichten jedoch weitestgehend auf den Bezug zu künstlich geschaffenen Familienbünden ihrer Bürger. Auch der Ehrbegriff wurde neu definiert und Ehrverletzungen beziehen sich nicht mehr auf die Gesamtgesellschaft, sondern betreffen nur noch die sogenannte “innere Ehre” des Einzelnen.

Liberale Gesellschaften erkennen an, egal ob bewusst oder unbewusst, dass das Individuum die kleinste und wichtigste Einheit innerhalb der Super-Gruppe ist und gemeinsame, positive Interaktionen zwischen diesen Individuen in erster Linie auf Basis von freiwilliger Kooperation und nicht auf Grundlage tatsächlicher oder erdachter Verwandtschaftsverhältnisse stattfinden. Sie erkennen außerdem an, dass sich Gruppeninteressen organisch aus der gemeinsamen Interaktion und Diskussion ergeben und diese nicht durch eine Führungselite vorgegeben werden müssen. Weiterhin sollen autoritäre Strukturen auf das Notwendigste reduziert werden und deren höchstes Ziel soll die Förderung der möglichst reibungslosen Kooperation zwischen allen Individuen der Super-Gruppe sein.

Die Grundlage dieser Kooperation stellt der sogenannte reziproke Altruismus dar. Dieser ist eine fundamentale Verhaltensweise des Menschen und vieler nicht-humaner Spezies, welche bereits lange vor der Existenz von Gesellschaften und Kulturen für die Entstehung von kooperativem Verhalten als Mittel zur Erhöhung der biologischen Fitness verantwortlich war. Um zu verstehen, wie reziproker Altruismus die Bildung liberaler Gesellschaften begünstigt und rechtfertigt, müssen wir nun einen kleinen Exkurs in die evolutionsbiologische Verhaltensforschung vornehmen.

[Reziproker Altruismus und liberale Gesellschaften]

Die Frage danach, wie sich Kooperationsverhalten in Lebewesen entwickeln konnte, blieb für lange Zeit ein ungelöstes Rätsel der biologischen Forschung. Doch nicht nur die regelmäßig beobachteten Fälle von Kooperation warfen Fragen auf: Menschen und Tiere zeigen häufig in verschiedenen Situationen ein scheinbar selbstloses, d.h. altruistisches Verhalten gegenüber ihren Artgenossen oder sogar nicht-verwandten Organismen. Da es Zeit- und Energiekosten verursacht, wenn ein Individuum einem anderen hilft, ohne dafür eine direkte und äquivalente Gegenleistung zu erhalten, gab es keine schlüssige Erklärung für die Entwicklung von altruistischem Verhalten. Im Jahr 1964 veröffentlichte William Hamilton seine Theorie der Verwandtenselektion, mit der es zumindest in Teilen möglich war das Vorkommen von Kooperationsverhalten in biologischen Organismen zu erklären. Die Grundannahme Hamiltons war es, dass, weil nah verwandte Individuen einen bestimmten Anteil derselben Gene gemein haben, es für ein Individuum vorteilhaft ist ein Familienmitglied ohne direkte Gegenleistung zu unterstützen. Selbstloses Verhalten kann in diesem Kontext die Chancen dafür erhöhen, dass das eigene Erbgut an die nachfolgende Generation weitergegeben wird. Die Bereitschaft mit der ein Individuum ein Familienmitglied selbstlos unterstützt, kann auf Grundlage des tatsächlichen Verwandtschaftsgrads berechnet werden. Diese nimmt mit zunehmend geringerem Verwandtschaftsverhältnis kontinuierlich ab.

Wie lässt sich jetzt jedoch kooperatives Verhalten ohne unmittelbare Gegenleistung in Organismen erklären, die keine nahen Verwandtschaftsverhältnisse aufweisen? Sieben Jahre nach Hamilton, im Jahr 1971, stellte Robert Trivers seine Theorie des reziproken Altruismus in der Wissenschaftswelt zur Diskussion. Trivers erläuterte seine Theorie anhand des sogenannten Gefangenendilemma:

Das Gefangenendilemma ist ein mathematisches Gedankenexperiment bei dem zwei Gefangene (oder allgemeiner: zwei Spieler) beschuldigt werden gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben. Beide Gefangene werden einzeln verhört und können keinen Kontakt zueinander aufnehmen. Es existieren folgende Möglichkeiten für die Gefangenen: Sie können die Tat entweder leugnen oder durch ein Geständnis den anderen verraten. Leugnen beide erhalten beide eine einjährige Haftstrafe. Gestehen und verraten die beiden den jeweils anderen, erhalten beide eine zweijährige Haftstrafe, aber nicht die Höchststrafe. Gesteht jedoch nur einer der beiden und verrät damit den anderen, so entgeht dieser jeglicher Strafe und wird als Kronzeuge freigesprochen, während der Verratene die Höchststrafe von 3 Jahren Haft erhält.

Das Dilemma der beiden Gefangenen besteht nun darin, dass sie sich dafür entscheiden müssen zu leugnen oder den anderen zu verraten, ohne dessen Entscheidung zu kennen.

Gefangener B Gefangener A
Leugnen Verraten
Leugnen 1 Jahr Haft | 1 Jahr Haft 0 Jahre Haft | 3 Jahre Haft
Verraten 0 Jahre Haft | 3 Jahre Haft 2 Jahre Haft | 2 Jahre Haft

Den größten Vorteil kann ein Gefangener erlangen, wenn er den anderen verrät. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass beide Gefangenen grundsätzlich sowohl rational als auch eigennützig handeln, dann werden beide zwangsläufig den jeweils anderen verraten. Dadurch erhalten beide eine 2-jährige Haftstrafe, länger also, als wenn beide die Tat geleugnet und damit kooperiert hätten. In einer einmalig stattfindenden Interaktion kann es zwar von Vorteil sein das Risiko einzugehen die Option des Betrugs zu wählen, in sich wiederholenden Gefangenendilemmas bildet sich jedoch immer die Kooperation als stärkste Strategie heraus, da sie das beste Ergebnis für beide Gefangenen erzeugt.

Übertragen wir die Regeln dieses Gedankenexperiments nun auf die reale Welt, dann lässt sich feststellen, dass Interaktionen zwischen Individuen häufig eine nicht endende Folge von Situationen darstellen, die dem Gefangenendilemma sehr ähnlich sind. Vor allem der Mensch ist dafür ein gutes Fallbeispiel: Frühmenschliche Lebensstile waren durch regelmäßige, direkte Interaktionen geprägt, in denen Individuen z.B. Waren und Dienstleistungen untereinander austauschten. Hierbei war es für die jeweiligen Parteien nicht sofort ersichtlich, wie sich das Gegenüber verhalten würde. Würde man sich an die getroffenen Absprachen halten oder bestand die Gefahr einem Betrüger gegenüberzustehen? Was wäre die beste Verhaltensweise? Kooperation oder das Gegenüber zuerst betrügen?

Selbst unter der Annahme, dass Individuen ausschließlich bewusst und rational handeln sowie nur den eigenen Vorteil im Blick haben, führt kooperatives Verhalten über den Verlauf sich wiederholender Interaktionen immer zu einem besseren Ergebnis, als durch den einmaligen Betrug gewonnen werden könnte. Dadurch entwickeln sich in sozialen Verbänden, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad, gegenseitige Vertrauensverhältnisse zwischen interagierenden Individuen. Diese können sich nicht nur überraschend schnell etablieren, sie weisen auch eine hohe langfristige Stabilität zwischen Geben und Nehmen auf. Kooperatives Verhalten erhöht somit die biologische Fitness von Individuen, was damit zu einer Selektion genau der Merkmale führt, die wiederum das Entstehen von weiteren, noch stabileren kooperativen Verhältnissen fördern.

Doch das Entstehen kooperativer Verhaltensweisen zwischen nicht-verwandten Individuen lässt sich nicht nur aus einer biologischen bzw. evolutionären Perspektive erklären. Christopher Stephens veröffentlichte im Jahr 1996 eine wissenschaftliche Arbeit über mathematische Modelle, mit denen die Theorie des reziproken Altruismus eindrücklich untermauert werden konnte. Als Beispiel führte er hierfür das kooperative Verhalten von Anubispavianen an, bei dem sich zwei Männchen verbünden, um gemeinsam gegen einen Rivalen und für ein Weibchen zu kämpfen. Nur der Anubispavian, der um Hilfe gebeten hat, paart sich im Anschluss mit dem Weibchen. Der Unterstützer geht leer aus, trägt aber trotzdem das Risiko des Kampfes. Stephens spricht hierbei von einer nicht-simultanen Kooperation bzw. einer verzögerten Kooperation. Das Verhalten des Unterstützers beruht darauf, dass er in einer zukünftigen Situation ebenfalls auf die Hilfe des anderen Anubispavian vertrauen kann.

Als weiteres Beispiel führt Stephens in seiner Arbeit Vampirfledermäuse an. Individuen dieser Spezies zeigen altruistisches Verhalten, in dem sie anderen Fledermäusen, die bei der Jagd nicht erfolgreich waren, Blut spenden. Sie erbrechen das zuvor getrunkene Blut ihrer Beute und versorgen damit andere, hungernde Fledermäuse, selbst wenn mit diesen kein Verwandtschaftsverhältnis besteht. Auch hier beruht das Verhalten auf einer erwarteten Gegenseitigkeit. In einer darauffolgenden Nacht können die Rollen von Geber und Nehmer tauschen.

In diesem Beispiel lässt sich noch eine weitere, evolutionär-entwickelte Verhaltensweise erkennen: In Laborexperimenten konnte gezeigt werden, dass die spendende Fledermaus ihr Verhalten einstellt, wenn die annehmende Fledermaus das altruistische Verhalten zu einem späteren Zeitpunkt nicht erwidert. Es entstand also nicht nur reziprok-altruistisches Verhalten auf evolutionärem Wege, sondern auch die Fähigkeit Betrüger zu erkennen. Betrüger zerstören das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen und Individuen, welche nicht in der Lage waren Betrug zu erkennen und sich stattdessen weiterhin selbstlos verhielten fielen zwangsläufig dem Selektionsdruck zum Opfer.

Können wir nun für die Existenz des reziproken Altruismus beim Menschen weitere Beispiele finden? Definitiv und das sogar noch deutlicher und vielfältiger als bei nicht-humanen Spezies. Als Beispiele finden sich das kooperative Verhalten gegenüber Familienmitgliedern, aber auch nicht-verwandten Individuen in Freundschaften und Partnerschaften. Oder der Zusammenschluss nicht-verwandter Individuen zu Gesellschaften, in denen diverse Arten und Formen der Arbeitsteilung betrieben werden. Außerdem zeigen menschliche Sozialverbände einzigartige und hochkomplexe Phänomene von Kooperation, welche vom gemeinsamen Aufbau eines Hauses bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen ganzen Nationen reichen, in denen sich unzählige, nicht-verwandte Individuen für das Erreichen gemeinsamer Ziele aufopfern.

Reziproker Altruismus ist also eine Verhaltensweise menschlicher und nichtmenschlicher Organismen, mit der sich auf Basis evolutionärer Prozesse und mathematischer Regeln erklären lässt, wie und warum sich sonst ausschließlich eigennützig handelnde Individuen gegenseitig unterstützen. Und das selbst wenn es für den Unterstützer bedeutet, zumindest kurzfristig den Verlust von Zeit-, Energie- oder Ressourcen in Kauf nehmen zu müssen, um dann zu einem späteren Zeitpunkt die Erträge seines scheinbar selbstlosen Verhaltens zu erhalten. Doch die Theorie des reziproken Altruismus bietet noch weitere Erklärungsansätze für Phänomene des sozialen Miteinanders.

Wie bereits im Beispiel der Vampirfledermäuse erwähnt, war es eine notwendige evolutionäre Parallelentwicklung, dass betrügerisches Verhalten in sozialen Interaktionen erkannt werden konnte. Schließlich hätte ein Individuum, welches sich regelmäßig ausnutzen lässt, nicht lange überleben können. Doch auch auf der Seite des Betrügers lassen sich interessante soziale Phänomene mit Hilfe des reziproken Altruismus erklären.

Die Autoren Timothy Ketelaar und Au Wing Tung konnten in einer ihrer Arbeiten aus dem Jahr 2003 zeigen, dass Probanden von einem Schuldempfinden berichten, nach dem sie selbst betrügerisch gehandelt hatten oder durch die Regeln des Experiments dazu gezwungen wurden einen anderen Probanden zu betrügen. Die Probanden nahmen an einem sogenannten Verhandlungsspiel teil, welches grundlegend den Regeln des Gefangenendilemma folgte. Als Folge des Schuldempfindens erhöhte sich jedoch gleichzeitig die Bereitschaft dieser Probanden im weiteren Spielverlauf mit anderen Spielern zu kooperieren. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Empfindung von Schuld, oder allgemein die Fähigkeit Empathie zu empfinden, einen parallel zum reziproken Altruismus entwickelten Mechanismus darstellt, welcher geschädigte persönliche Beziehungen wieder reparieren und das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen wiederherstellen soll.

Doch nicht nur Schuldempfinden, auch andere Emotionen treten in diesem Zusammenhang auf: Probanden, die an diesen oder ähnlichen Verhandlungsspielen teilnehmen und sich am anderen Ende des betrügerischen Akts befinden, berichten von Wut oder Zorn sowie dem Verlangen dem Betrügenden Schaden oder Kosten zuzufügen. Aus diesen Emotionen ergibt sich also der Wunsch nach Rache, welcher sich ebenfalls in vielen kulturellen Kontexten wiederfinden lässt. Das komplexe System aus Empathiefähigkeit, Wut- und Schuldgefühlen bildet also einen zusätzlichen Aspekt, welcher das Konzept des reziproken Altruismus unterstützt.

Die Theorie des reziproken Altruismus bietet somit Erklärungen dafür, warum wir uns schuldig fühlen, wenn wir ein anderes Individuum ausgenutzt haben und wieso wir wütend werden, wenn wir herausfinden, dass wir betrogen wurden. Dieses System ist damit außerdem eine mögliche Ursache dafür, warum verschiedene Formen von Betrug universell abgelehnte und geradezu verhasste Verhaltensweisen sind. Betrügerisches Verhalten war und ist in allen bekannten Kulturen negativ konnotiert, geht es hierbei nun um Ehebruch, Lügen, Opportunismus oder Verrat. Die Reaktion auf einmal erkanntes betrügerisches Verhalten ist in der Regel ad hoc, d.h. spontan und intuitiv – basiert also auf unseren Emotionen, die wiederum unser moralisches Grundempfinden bestimmen und beeinflussen.

Positive soziale Interaktionen durch Kooperation, das organische Entstehen von Gruppeninteressen und die Grundlage für moralisches Handeln – das alles sind intrinsische Eigenschaften, die durch jahrtausendelange evolutionäre Prozesse zum Teil der Conditio humana – also der Natur des Menschen – geworden sind. Keine dieser Eigenschaften wird erst durch Kultur, Gesellschaft oder kollektive Identität zum Teil der persönlichen Identität des Individuums. Nein, ganz im Gegenteil. Diese intrinsischen Eigenschaften bilden den Grundstein, auf dem sich Kultur, Gesellschaft und kollektive Identität erheben können. Mit allen ihren positiven und negativen Effekten.

[Identitätspolitik als Gefahr für westliche Werte und liberale Gesellschaften]

Schlagen wir nun wieder den Bogen zu unseren Ausgangsfragen: Gibt es Hinweise auf biologische bzw. evolutionäre Grundlagen von kollektiver Identität? Ja, zumindest dann, wenn es sich um Kleingruppen von Menschen bis zu maximal 250 Einzelpersonen handelt. Alles darüber hinaus lässt sich aufgrund irrelevant werdender Verwandtschaftsverhältnisse und den Folgen der Dunbar-Zahl nicht auf biologischer Grundlage rechtfertigen. Alle Bestrebungen zu kollektiver Identität über dieses Limit hinaus müssen durch Sprache geschaffen und damit durch soziale Normen konstruiert werden. Kollektive Identität wie wir sie heute in Form von Identitätspolitik beobachten können ist somit, im Gegensatz zu persönlicher Identität, eine rein soziale Konstruktion und kann folglich auf Basis völlig beliebiger Merkmale und Kriterien erschaffen und geformt werden. Eine Begründung von kollektiver Identität kann sich also nicht auf Tradition, Geschichte oder Verwandtschaft bzw. Abstammung berufen, sondern muss explizit darlegen, warum die gewählten Merkmale und Kriterien eine Grundlage für die kollektive Identität bilden und diese rechtfertigen.

Soziale Konstruktion allein widerlegt jedoch nicht die Sinnhaftigkeit und den möglichen Nutzen einer kollektiven Identität. Lassen sich also Gründe dafür finden, warum ein autoritäres und kollektivistisches System einem liberalen und individualistischen System vorzuziehen wäre?

Liberale Gesellschaften stützen sich auf die eigenständige, individuelle Interaktion ihrer Bürger. Diese Systeme beruhen auf der Annahme, dass durch den Fokus auf das Individuum und dessen Freiheiten und Rechte die maximale Menge an Vorteilen und das größtmögliche Wohlergehen aller Mitglieder der Gesellschaft erreicht werden kann. Dass ein liberales System funktionieren und die genannten Ziele erfüllen kann, lässt sich mit der Existenz des reziproken Altruismus erklären und begründen.

In diesem Zusammenhang muss jedoch erwähnt werden, dass auch der reziproke Altruismus kein perfektes System darstellt. 1. Verwandtenbevorzugung findet auch unter der Annahme statt, dass Individuen auf reziprok-altruistischer Basis interagieren. 2. Das Kooperationsverhalten ist nie wirklich altruistisch, sondern beruht auf der Erwartung von Gegenseitigkeit. 3. Betrug kann eine lohnenswerte Option sein, wenn es sich um einmalige Interaktionen handelt und wenn der Betrügende glaubt unbeobachtet zu sein bzw. ungeschoren davonkommen zu können.

Labor-Experimente, wie in der Studie “Evidence for strategic cooperation in humans” von Maxwell Burton-Chellew und Kollegen aus dem Jahr 2017, zeigen, dass kooperatives, strategisches Verhalten im Menschen zwar sehr deutlich ausgeprägt ist, aber vor allem durch die Wahrnehmung durch andere Individuen beeinflusst wird. Die in der Studie untersuchten Probanden nahmen an einem Spiel teil, in dem sie zu Beginn eine bestimmte Menge an Geld erhielten und dieses entweder für sich behalten oder in ein öffentliches Konto einzahlen konnten. Am Ende der Runde wurde das Geld im öffentlichen Konto vervielfacht und dann zu gleichen Anteilen an alle Teilnehmer ausgezahlt. Spieler konnten also entweder kooperieren, indem sie ihr Geld in das öffentliche Konto einzahlten und somit den Gewinn für alle anderen Spieler, also zum Wohl aller, erhöhten. Oder sie konnten die anderen Mitspieler betrügen, indem sie eigennützig handelten, nichts einzahlten und dann trotzdem am Ende Geld aus dem öffentlichen Konto erhielten.

Glaubten die Probanden, dass ihre Entscheidung für die anderen Spieler unsichtbar bleiben würde, machten sie häufiger von der Möglichkeit Gebrauch das Geld einzubehalten. Wurde den Probanden jedoch gesagt, dass ihre Entscheidung für die anderen Spieler sichtbar sein würde, verdreifachte sich ihre Kooperationsbereitschaft und sie zahlten entsprechend häufiger in das öffentliche Konto ein.

Liberale Gesellschaften müssen sich dieser Realität stellen und diese mit Hilfe autoritärer und hierarchischer Strukturen kompensieren. Auch die liberalste Gesellschaft braucht Regeln und Gesetze, staatliche Institutionen und ein Justizsystem zur Schlichtung von Konflikten. Die positive und gegenseitige Kooperation zwischen den Individuen soll gefördert und so reibungslos wie möglich gestaltet werden. Höchste Priorität hat hierbei aber immer das Sparsamkeitsgebot und die Notwendigkeit von autoritären Strukturen muss kontinuierlich ausdiskutiert und ausreichend begründet werden.

Kollektivistische Systeme beruhen hingegen auf der Annahme, dass das Erreichen der festgelegten Gruppeninteressen mit dem maximalen Wohlergehen jedes einzelnen Individuums gleichzusetzen ist. Diese Gesellschaften verfolgen somit kein Sparsamkeitsgebot, da ein Mehr an autoritären Strukturen und Hierarchien positiv für die festgelegten Gruppeninteressen ist. Gesetze und Regeln sollen die Freiheiten des Individuums bis ins kleinste Detail festlegen bzw. einschränken, insofern es für das Kollektiv von Vorteil ist. In diesen Gemeinschaften müssen Individualrechte kontinuierlich ausdiskutiert und hinreichend begründet werden, wobei für die Debatte darüber häufig nur ein kleiner Teil des Kollektivs verantwortlich ist. Zur Einhaltung der Ordnung und als Mittel gegen Abweichler wird eine kollektive Identität geschaffen und forciert, bis diese Teil der persönlichen Identität jedes Individuums wird. Kollektivistische Systeme und die jeweils eingesetzte kollektive Identität bergen somit ein hohes Risiko des Machtmissbrauchs und der willentlichen Manipulation aller Individuen.

Um zu demonstrieren wie Machtmissbrauch und Manipulation aus kollektiver Identität und kollektivem Gedankengut entstehen können, muss nicht einmal in die Schreckenskiste der Vergangenheit gegriffen werden. Aktuelle identitätspolitische Bestrebungen in vielen westlichen, liberalen Gesellschaften haben zur Fragmentierung der Bevölkerung in politische Gruppen auf Basis von demographischen Merkmalen geführt. Nicht Ideen und durch Diskurs geschaffene gemeinsame Ziele und Interessen sind die treibende Kraft hinter diesen Kollektiven; nein, die Hautfarbe, die Herkunft oder das Geschlecht einer Person bestimmen das politische Handeln.

Nicht nur, dass die Abgrenzung durch demographische Merkmale die Möglichkeit einer Kompromissfindung zwischen diesen Kollektiven unmöglich macht; politische Argumente sind zu einem Verweis auf die Zugehörigkeit des Gegenübers zu einer bestimmten Gruppe bzw. einer bestimmten kollektiven Identität verkommen.
Gleichzeitig wird die eigene Gruppenzugehörigkeit als Scheinargument verwendet, um andere von den eigenen politischen Zielen zu überzeugen. Innerhalb dieser durch Identitätspolitik geschaffenen Gruppen zählt nicht mehr der unabhängige Gedanke und die Interessen des Individuums, sondern die persönlichen Interessen von einer kleinen, überschaubaren Führungsriege oder eines einzelnen Vordenkers. Der oder die Chefideologen bestimmen die Marschrichtung, der restliche Teil der Gruppe besteht aus Mitgliedern und Mitläufern, die sich durch sozialen Druck und Konformitätswunsch der vorgegebenen Gruppenmeinung anpassen. Kollektivismus und kollektive Identität sind somit die Brutkammer tribalistischen Denkens und der geist- und gedankenlosen Verfolgung ideologischer Dogmen.

Identitätspolitik führt zur fortschreitenden Balkanisierung unserer Gesellschaften, zur Milieubildung auf Basis kollektiver Identität. Identitätspolitik fördert somit nicht die Kohärenz einer Gesellschaft, sondern erzeugt eine Vielzahl an Gruppen zwischen denen keinerlei Diskurs oder sogar Kompromiss möglich ist. Sie führt zur maximalen Zersplitterung in kollektive Identitäten, der absoluten Abgrenzung des Eigenen zum Anderen und zerstört damit ein funktionierendes politisches und gesellschaftliches Miteinander.

Die Frage danach, ob sich Gründe dafür finden lassen, warum ein kollektivistisches System einem individualistischen System vorzuziehen wäre, lässt sich also mit einem klaren Nein beantworten.

[Zusammenfassung]

Die intellektuelle Unredlichkeit und fehlende Selbstreflexion derjenigen, die ein Argument sinngemäß mit “Ich als schwarze Frau…” oder “Ich als patriotischer Europäer…” einleiten, ist im besten Falle so belustigend wie die zahlreichen Parodien von auf die Spitze getriebener identitätspolitischer Handlungen. Abseits der offensichtlichen Extreme wäre es jedoch durchaus ein legitimer Einwurf die Frage zu stellen, ob wir denn nicht einfach nur die schlechte und destruktive Identitätspolitik der SJWs, selbsternannten Verteidiger des Abendlandes, islamistischer Fundamentalisten und der Black oder White Supremacists abwerfen sollten, gleichzeitig aber die vermeintlich positiven, gesellschaftsförderlichen Formen der Identitätspolitik und kollektiver Identität beibehalten sollten. Schließlich sind wir Menschen im Kern ja dennoch tribalistisch-denkende Wesen und politische Handlungen lassen sich nur über kollektive Vorgehensweisen realistisch umsetzen.

Die identitätspolitischen Bestrebungen der letzten Jahre schlagen in genau diese Kerbe. Deren politischen Forderungen, wie z.B. die der Identitären Bewegung, lesen sich unter anderem wie folgt: Die Verteidigung des Eigenen, das Bekennen zu seiner eigenen Kultur und Tradition, der Erhalt der eigenen ethnokulturellen Identität. Unabhängig davon, dass Begrifflichkeiten wie Kultur, Tradition und ethnokulturelle Identität nicht definiert werden – und vermutlich auch niemals wirklich trennscharf definiert werden könnten – Abgrenzung auf Basis willkürlich festgelegter Merkmale ist auch hier das Mantra, begründet allein durch Geschichte und Herkunft. Eine unzureichende Begründung, die so nicht akzeptiert werden kann. Geschichte, Herkunft oder Abstammung rechtfertigen nicht die Existenz einer kollektiven Identität, die einer Super-Gruppe – in dem Fall allen Deutschen oder allen Europäern – innewohnen soll.

Doch können diese politischen und gesellschaftlichen Forderungen überhaupt weiter begründet werden, abseits von Gefühlen und persönlichen Wunschdenken? Inwiefern ließen sich außerdem die autoritären Maßnahmen rechtfertigen, die für die Durchsetzung dieser Forderungen zwangsläufig notwendig wären? Das Risiko der Verletzung von Individualrechten, der mögliche Machtmissbrauch, die Manipulation des Einzelnen durch sozialen Druck, Gruppenzwang und Konformitätsdenken – die Probleme kollektivistischer Ansätze treten auch hier hervor, da sie dem Kollektivismus als System selbst zugrundeliegen.

Die Frage sollte darum anders gestellt werden: Müssen wir die Risiken kollektivistischer Lösungsansätze eingehen, weil nur diese die Probleme unserer Zeit lösen können? Zur Beantwortung dieser Frage genügt erneut der Verweis auf die Grundprinzipien liberaler Gesellschaften: Die Entstehung von gemeinsamen Interessen und Zielen durch Kooperation und einen offenen Diskurs benötigt keine kollektive Identität; die intrinsischen Eigenschaften des Menschen – aller Menschen – evolutionär geformt durch reziprok-altruistische Mechanismen, reichen dafür vollkommen aus. Vergleichbares gilt für das Sparsamkeitsgebot in Bezug auf autoritäre Strukturen und Hierarchien. Die Begrenzung von formellen und informellen Regeln auf das absolut notwendige fördert den reibungslosen Ablauf politischer Prozesse und gesellschaftlicher Interaktion. Individualrechte garantieren nicht nur die Freiheiten des Einzelnen, sondern verpflichten gleichzeitig zur Wahrung dieser Rechte für jedes Individuum innerhalb der Gemeinschaft. Betrügerisches Verhalten, welches die Grundprinzipien der Kooperation verletzt kann ohne Weiteres erkannt und durch die notwendigen Institutionen sanktioniert werden.

Alle politischen und gesellschaftlichen Probleme mit denen westliche Gesellschaften aktuell konfrontiert werden, lassen sich also ohne die Etablierung einer althergebrachten oder neu erfundenen kollektiven Identität lösen. Keines der Risiken, die kollektivistische Ansätze mit sich führen muss somit eingegangen werden und keine der politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften westlicher, liberaler Demokratien muss aufgrund falsch verstandener Ängste abgeworfen werden. Der Ruf nach Sicherheit ist ein mächtiger Ruf voller Überzeugungskraft und die Grenzziehung in das Eigene und das Andere scheint für viele Menschen verlockend, weil es eine simple Problemlösung verspricht. Doch Sicherheit nach außen ist kein Gewinn, wenn es ein Zerwürfnis nach innen bedeutet.

Identitätspolitik führt, entgegen ihrer Versprechungen, weder zur erhofften Lösung der Identitätskrisen noch zur Beantwortung dringender Sicherheitsfragen. Stattdessen bereitet sie den Weg in ein Sektierertum, geleitet von realitätsfernen Dogmen und führt damit zur irreparablen Beschädigung unserer Gesellschaften. Die Zukunft in der ich leben möchte ist deshalb individualistisch und kein Kollektiv, liberal und nicht autoritär, reich an denkerischer Vielfalt und arm an homogenen Identitäten. Sie ist linksliberal.

Quellen:

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https://www.ratioblog.de/entry/fehlschluss-18-argument-des-althergebrachten-traditionsargument

„The Red Pill“ | Livestream mit den Small Talkers

Ich habe mich mit den Small Talkers über die Dokumentation „The Red Pill“ in einem ca. zweistündigen Livestream ausgetauscht. Es war ein sehr entspanntes und vor allem interessantes Gespräch über einige der Themenschwerpunkte, die in der Doku angeschnitten werden, wie z.B. die Entbehrlichkeit des Mannes, häusliche Gewalt und Familienrecht. Den Livestream möchte ich  euch natürlich nicht vorenthalten und ich wünsche euch viel Spaß beim Schauen!

Die Quadratur der Liebe – Jäger & Sammler auf Abwegen

Der Youtube-Kanal „Jäger & Sammler“, Mitglied des öffentlich-rechtlichen Content-Netzwerkes FUNK, hat vor kurzem in einem Video eine Einladung für ein Gespräch an Die Vulgäre Analyse, Dorian der Übermensch und mich ausgesprochen. Wie genau das ablaufen sollte, was uns für Bedingungen gestellt wurden und warum das Gespräch (vermutlich) nicht zustande kommen wird erläutere ich in folgendem Videobeitrag. Viel Spaß!

Das Problem mit den Kategorien

Die Debatte um das Wesen des Geschlechts. Kaum ein Diskurs wird so erbittert geführt und nur selten treffen solch verhärtete Fronten aufeinander. Zumindest ergibt sich dieses Bild, wenn ich in meine persönliche Online-Filterblase schaue.

Anstoß für eine weitere Episode dieses nicht enden wollenden Austauschs von Strohmann-Argumenten war die letzte Folge der Netflix-Show Bill Nye Saves the World des US-amerikanischen Aushängeschilds der Populärwissenschaft Bill Nye, auch bekannt als Bill Nye the Science Guy, ehemaliger Moderator der gleichnamigen Wissenschaftssendung für Kinder.

Besonders viel Kritik, Spott und Hohn erhält derzeit dieses Segment der Sendung:

Die Botschaft ist einfach und verfolgt die besten Absichten: Das Geschlecht und Geschlechtsidentität lassen sich nicht in ein simples, binäres System zwängen. Es gibt mehr Kombinationen der Geschlechtschromosomen als XX und XY, mehr als nur männlich und weiblich. Geschlechtsidentitäten stimmen nicht immer mit dem biologischen Geschlecht überein und können sich im Laufe des Lebens verändern.

Vollkommen richtig. Das alles kommt vor und nicht jeder Mensch kann sich in dieses System mit nur zwei Möglichkeiten einordnen. Wenn wir jedoch einen Blick auf die Häufigkeit dieser weiteren Möglichkeiten schauen, dann fällt auf, dass mehr als 99% aller Menschen problemlos in entweder die XX- oder die XY-Kategorie fallen:

Karyotypen3
Abb. 1: Anteil verschiedener Karyotypen bei Neugeborenen. Man beachte auch den Bruch der Y-Achse. Ohne diesen wäre es nicht möglich gewesen die Anteile des X- und XXYY-Karyotyps grafisch abzubilden. (Darstellung basiert auf den Daten der U.S. National Library of Medicine)

Aus den Daten über die Häufigkeit verschiedener Chromosomenanomalien der U.S. National Library of Medicine habe ich obige Abbildung erstellt. Es ist eindeutig, dass Abweichungen vom XX/XY-Karyotyp extrem selten sind und noch nicht einmal einen Anteil von 0,5% bei allen Neugeborenen ausmachen.

Bedeutet das nun, dass die von einer solchen Chromosomenabnormalität Betroffenen vernachlässigt oder gänzlich ignoriert werden sollten? Diese Frage beantworte ich mit einem vehementen „Nein!“ und dieser Sachverhalt soll hier auch gar nicht zur Debatte stehen.

Stattdessen möchte ich die Frage in den Raum werfen, welches Ziel die von Bill Nye bzw. seinem Produktionsteam gewählte Darstellung der Abweichungen vom XX/XY-Karyotyp verfolgt und welchen Mehrwert diese Form der Kategorisierung, und letztendlich „Gleichstellung“, verschiedener Karyotypen produzieren soll.

Kategorien, Einordnungen und Klassifizierungen sind kognitive Hilfswerkzeuge. Das menschliche Denken basiert auf Mustererkennung und wir erschaffen immer und immer wieder Kategorisierungen, um diesen erkannten Mustern einen Namen zu geben und um diese unmissverständlich und effizient kommunizieren zu können. Kategorisierungen sollen uns also kognitive Arbeit abnehmen, indem sie die Realität weiter schematisieren bzw. vereinfachen und sie sollen unsere Kommunikation erleichtern, indem wir uns gemeinsam darauf einigen, welchen Rahmen eine Kategorie umfasst, welche Sachverhalte in diese Kategorie fallen und welche sich außerhalb dieser Kategorie befinden. Daher reicht es z.B. eine etablierte Kategoriebezeichnung zu erwähnen, um auf sehr effiziente Art und Weise Informationen zu vermitteln, während ohne die Existenz einer solchen Kategorie deutlich mehr Zeit und Arbeit investiert werden müsste, um einer anderen Person zu erklären, was denn nun eigentlich gemeint ist.

Da Kategorien zu 100% menschliche Konstrukte darstellen, unterliegen sie einem ständigen Wandel. Klassifizierungen ändern sich, Kategorien werden enger oder weiter gefasst, Einordnungen werden unter anderen Gesichtspunkten vorgenommen, wenn sich die Informationslage wandelt.

Egal wie stark jedoch dieser Wandel ist, Kategorien sollten immer folgende Punkte erfüllen: Sie sollen die Realität korrekt abbilden, diese vereinfachen und diese vereinfachte Realität eindeutig kommunizieren. Wenn diese Merkmale von einer Kategorisierung nicht erfüllt werden, dann ist sie im besten Fall nutzlos und im schlimmsten Fall gefährlich, da sie falsche Schlussfolgerungen provoziert.

Daraus ergibt sich Folgendes: Kategorisierungen sind niemals wahr oder unwahr, da sie keine Fakten darstellen. Das bedeutet aber nicht, dass alle Kategorisierungen gleich sinnvoll und angemessen sind.

Schlagen wir jetzt wieder den Bogen zu unserem Ausgangspunkt und dem Segment aus der Sendung von Bill Nye. Welches Ziel verfolgt die dort gewählte Darstellung der Abweichungen vom XX/XY-Karyotyp? Klinefelter-Syndrom, Turner-Syndrom, Triple-X-Syndrom etc. sollen als eigenständige, gleichwertige Kategorien neben den XX- und XY-Karyotypen angesehen werden. Als ob es sich hierbei eben nicht um Anomalien und Störungen der normalen Geschlechtsentwicklung beim Menschen handelt, sondern dass stattdessen nahezu nach dem Zufallsprinzip während der Meiose die jeweilige Kombination der Geschlechtschromosomen entsteht. Das ultimative Vorhaben besteht darin, die Stigmatisierung der Betroffenen aufzuheben, den Blick weg vom Krankheitsbild zu lenken und somit den Fortschritt hin zu einer sozialeren und gerechteren Gesellschaft zu fördern. Ob dieses Ziel tatsächlich erreicht werden kann, lasse ich an dieser Stelle unkommentiert.

Doch welchen Mehrwert kann eine solche Vorgehensweise überhaupt bieten? Die Fakten lassen sich durch keine noch so ausgefuchste semantische Spielerei ändern. Es bleibt die Tatsache bestehen, dass Chromosomenanomalien weniger als 1% der Gesamtbevölkerung betreffen und die Betroffenen immer eine Abweichung von der Norm bleiben werden. Eine „Gleichstellung“ verschiedener Karyotypen oder die Erfindung neuer Kategorien für diese Abweichungen wird an diesen Zahlen auch in Zukunft nichts ändern. Lässt sich aber das Stigma, welches mit diesen Chromosomenanomalien verbunden ist, reduzieren oder sogar vollständig abschaffen? Möglicherweise.

Ist aber ein „möglicherweise“ ein ausreichender Grund dafür, die Funktion und den Sinn von Kategorisierungen auszuhebeln? Schauen wir uns noch einmal die von mir genannten Merkmale einer Kategorisierung an: Abbildung der Realität, Vereinfachung, Eindeutigkeit.

Eine Abbildung der Realität findet nur insofern statt, als das es tatsächlich verschiedene Karyotypen geben kann. Das Verhältnis in der Auftretenshäufigkeit dieser verschiedenen Karyotypen wird hingegen nicht korrekt abgebildet. Der vermittelte Eindruck legt nahe, dass z.B. XX und XXY gleich häufig auftreten können, was eine massive Verzerrung der realen Situation darstellt. Außerdem kann dadurch ein Klima erschaffen werden, bei dem diese Chromosomenanomalien weniger als Krankheitsbild wahrgenommen, sondern nur mehr als weitere, normale Ausprägung der Geschlechtschromosomen angesehen werden. Im schlimmsten Fall führt das zur Vernachlässigung der spezifischen Probleme, die mit einer solchen genetischen Störung einhergehen und Betroffenen wird nicht die Hilfe und Aufmerksamkeit entgegengebracht, die sie benötigen. Auch Forschungsbestrebungen zur Symptombekämpfung und letztendlich Heilung dieser Krankheitsbilder kann dadurch eingeschränkt werden, da hier zwei sich gegenseitig ausschließende Konzepte aufeinander prallen: Schwangerschaftsabbruch bei frühzeitig entdeckten genetischen Störungen, präimplantationsdiagnostische Methoden und (zukünftige) Eingriffe in das Erbgut mit dem Ziel der Heilung von Erbkrankheiten unterliegen immer dem Vorwurf der Euthanasie, wenn Chromosomenanomalien wie Klinefelter- und Turner-Syndrom ja eigentlich nur andersartige Ausprägungen des Geschlechts sind.

Des Weiteren findet keine Vereinfachung der Realität statt. Ganz im Gegenteil, die Erfindung neuer, gleichwertiger Geschlechtskategorien neben männlich und weiblich verkompliziert den Blick auf die Situation. Das allein wäre jedoch kein Grund diese neuen Kategorien abzulehnen, wenn diese Verkomplizierung gerechtfertigt und z.B. empirisch/wissenschaftlich gestützt ist. Das ist jedoch aus meiner Sicht nicht der Fall.

Wenn wir uns weiterhin anschauen, ob diese neuen Kategorisierungen eindeutig, klar und unmissverständlich sind, dann fallen wir in ein tiefes schwarzes Loch. Männlich und weiblich, XY und XX respektive, sind Funktionsbeschreibungen bzw. -zuweisungen im Rahmen der geschlechtlichen Fortpflanzung. Die Männchen einer Spezies sind die Spermienproduzenten, während die Weibchen einer Spezies die Eizellenproduzenten sind. Diese beiden Kategorien basieren also auf funktionellen Unterscheidungen zwischen zwei Phänotypen, die eine sich geschlechtlich fortpflanzende Spezies aufweisen kann. Im Zusammenhang mit diesen beiden unterschiedlichen Aufgaben finden sich zahlreiche genetische, morphologische und hormonelle Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern. So finden wir unterschiedliche Geschlechtschromosomen, unterschiedliche primäre, sekundäre und tertiäre Geschlechtsmerkmale, unterschiedliche Hormonkonzentrationen und die besagten unterschiedlichen Gameten, namentlich Spermien und Eizellen. Alle diese Unterscheidungen beruhen auf einer Kausalkette und einer Entwicklungskaskade, die mit Abschluss der Befruchtung eingeleitet wird. Ausschlaggebend hierfür ist das SRY-Gen, lokalisiert auf dem Y-Chromosom (Ausnahme: Translokation). Ist es vorhanden, wird im weiteren Verlauf der Embryonalentwicklung die männliche Entwicklungskaskade eingeleitet. Ist es nicht vorhanden, wird die weibliche Entwicklung gestartet. Die Unterscheidung der Individuen innerhalb einer Spezies in männlich und weiblich ist also gerechtfertigt und empirisch gestützt.

Wie verhält es sich mit eigenen Geschlechtskategorien für die Karyotypen XXY, XYY und X? Alle diese Chromosomenanomalien weisen unterschiedliche Symptome in unterschiedlicher Intensität auf: Kleinwüchsigkeit, Sterilität, kein Einsetzen der Pubertät aufgrund von zu geringen Hormonspiegeln, Schwellungen, Nierenprobleme, Herzfehler, Änderungen des Skelettbaus, mentale Retardierung, Fehlbildungen der Genitalien, verstärkter oder verringerter Haarwuchs, Verhaltensstörungen etc. Zusätzlich entwickelt sich bei den Betroffenen ebenfalls mindestens einer der beiden Gametentypen und in besonderen Fällen der Intersexualität kann sich außerdem nicht funktionsfähiges Gewebe des anderen Geschlechtsorgans herausbilden.

Inwiefern kann nun Eindeutigkeit zwischen diesen neuen, gewünschten Geschlechtskategorien und den „alten“ Geschlechtskategorien bestehen? Die Rahmenbedingungen der neuen und alten Kategorien stimmen nicht überein, sie umfassen nicht die gleichen Sachverhalte und Merkmale und sind auch nicht in sich konsistent, da die Chromosomenanomalien eine unterschiedlich starke Symptomatik hervorbringen können. Die Verwendung des Kategoriebegriffs „Geschlecht“ ist in diesem Zusammenhang eindeutig irreführend.

Ich möchte an dieser Stelle die bisher getätigten Überlegungen und Bedenken anhand einer Analogie verdeutlichen: Menschen haben zwei Typen von Gliedmaßen, Arme und Beine. Diese beiden Kategorien sollen die zugehörigen Körperteile auf morphologischer und funktioneller Ebene unterscheiden. Arme werden von 99% aller Menschen zum Heben, Malen, Schreiben etc. eingesetzt, während Beine in der Regel von der Mehrheit aller Menschen zur Fortbewegung eingesetzt werden.

Es kommt nun vor, dass durch Erkrankungen bzw. Entwicklungsstörungen manche Menschen die Arme zur Fortbewegung nutzen (müssen) oder mit ihren Beinen greifen, heben, malen und schreiben können (technische Hilfestellungen jetzt einmal außen vorgelassen). Die Anzahl dieser Personen bleibt jedoch überschaubar und letztendlich eine Anomalie, eine Abweichung von der Norm. Ausnahmen bestätigen die Regel und widerlegen sie nicht.

Jetzt könnte es, analog zur Geschlechterdebatte, auch in Bezug auf Arme und Beine einen Vorstoß geben, um zusätzliche Kategorien für diese Abweichungen einzurichten. Damit wird das „binäre System“ von Armen und Beinen aufgebrochen, für ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit gesorgt und die Stigmatisierung der Anomalie aufgehoben. Fortan reden wir von „Bein-Läufern“ und „Arm-Läufern“; manch einer entscheidet sich sogar dafür, sich als „Arm-Läufer“ zu identifizieren, obwohl dafür aus morphologischer Sicht gar keine Notwendigkeit besteht.

Sollte das eine liberale Gesellschaft ermöglichen? Natürlich.

Aber welchen Sinn hätte es eine neue Kategorie einzuführen, in der diese Menschen zusätzlich klassifiziert werden? Und welche Rechtfertigung gäbe es dafür, diese Abnormalität (und das meine ich nicht wertend, sondern als faktische Beschreibung, d.h. Abweichung von der Norm) mit den „Bein-Läufern“ zu vergleichen und so zu tun, als handele es sich hierbei einfach nur um eine andersartige Ausprägungsform des Bewegungsapparats oder eine persönliche Entscheidung, die theoretisch jeder treffen könnte und würde, wenn er nur nicht durch repressive Gesellschaftsnormen daran gehindert werden würde (vgl. Cis- und Heteronormativität)?

Wäre es falsch? Nein. Aber es wäre irreführend, weil damit ein falscher Eindruck der Realität vermittelt wird.

Die Kategorie der „Bein-Läufer“ würde eine so signifikant höhere Relevanz als die Kategorie der „Arm-Läufer“ besitzen, dass es absolut lächerlich erscheint ein System verkomplizieren zu wollen, nur um den Schein von sozialer Gerechtigkeit und gefühlter Repräsentation aufrecht zu erhalten. Die „Arm-Läufer“ würden außerdem weiterhin als Abweichung von der Norm betrachtet werden, egal wie viel semantischer Hokuspokus betrieben wird.

Noch deutlicher lässt sich dieser Vergleich auf der morphologischen Ebene vornehmen. Bleiben wir beim Arm-Bein-Beispiel: Zwei Gliedmaßen, die sich eindeutig morphologisch unterscheiden. Jetzt wird ein Mensch mit genetischer Abnormalität geboren, welche in einem oder mehreren Gliedmaßen resultiert, welche Merkmale von Arm und Bein aufweisen. Handelt es sich nun um eine neue Kategorie von Gliedmaßen? Sollten wir dafür eine eigene Kategorie erfinden, um dieses augenscheinliche Krankheitsbild ausreichend in der Gesellschaft zu repräsentieren? Warum reden wir nicht von einem Spektrum zwischen Arm und Bein?

Ohne mich hierbei jetzt allzuweit aus dem Fenster zu lehnen, kann ich mit guter Gewissheit annehmen, dass sich hinter diesem Vorschlag nur wenige Unterstützer versammeln lassen würden. Aber warum? Prinzipiell reden wir von einem vergleichbaren Mechanismus. Zwei eindeutig unterscheidbare Kategorien und ein riesiges Spektrum an möglichen Ausprägungen dazwischen. Dass diese möglichen Ausprägungen jedoch in der absoluten Mehrheit Entwicklungsstörungen darstellen, sollte ja eigentlich niemanden davon abhalten, neue, gleichwertige Kategorien neben Arm und Bein zu fordern. Oder?

In der Debatte um das Wesen des Geschlechts scheinen jedoch andere Regeln zu gelten.